Der Televisionär – Farewell!

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Farewell, Wolfgang!

Ansprache, gehalten von Gundolf S. Freyermuth bei der Trauerfeier für Wolfgang Menge in Berlin am 25. Oktober 2012

Vor einem Vierteljahrhundert, im Frühjahr 1987, habe ich Wolfgang Menge zum ersten Mal in der Klopstockstraße besucht. Ein oder zwei Jahre später – wie bestimmt man so etwas? – war er mein ältester Freund; und ich vermutlich sein jüngster.

Aber ich bin damals natürlich nicht zu Wolfgang gefahren, um eine Freundschaft zu schließen. Sondern – das war meine professionelle Perspektive als Reporter – um einen der wichtigsten und witzigsten Fernsehmacher und zugleich radikalsten Fernsehkritiker zu porträtieren.

Ich kam wegen „Millionenspiel“ und „Smog“, Ekel Alfred und „3-nach-9“, wegen der einzigartigen Respekt- und Geschmacklosigkeit, wegen der thematischen und ästhetischen Wagnisse, die Wolfgang im Laufe seiner damals ja immerhin schon über 40jährigen Karriere eingegangen war. Kurzum, ich kam als bewundernder Kritiker oder kritischer Bewunderer eines Televisionärs.

Diese doppelte Perspektive, sein Freund zu sein und sein Werk auszudeuten, hat sich über die Jahre gehalten. Denn wir haben nicht nur viele Hundert Stunden zusammen Computer – und uns selbst – auf äußerste Leistungsfähigkeit getestet und viele, viele Abende zusammen gegessen und getrunken. Ich habe auch immer mal wieder über ihn geschrieben.

Autobiographie und Analyse, diese Mischung will ich beibehalten, wenn ich Ihnen, Euch jetzt von drei der vielen Dinge erzähle, die ich im Laufe der Jahre von ihm gelernt habe.

Bei der ersten Begegnung war es ein warmer Zehlendorfer Frühlingsmorgen, elf oder zwölf Minuten nach zehn. Und genau darin lag das Problem: Die Fotografin und ich waren ein wenig zu spät.

Auf unser Klingeln hin dauerte es eine mittlere Ewigkeit. Dann erschien Wolfgang, in einer Khaki-Hose mit roten Hosenträgern. Wobei sich aus dieser Beschreibung ergibt: Er war barfuß und ziemlich nackt von der Gürtellinie bis zum virtuellen Scheitel. Ganz offensichtlich hatten wir ihn aus dem Bett geholt.

Was ihn aber nicht daran hinderte, uns wegen der Verspätung zu beschimpfen. Er habe besseres zu tun, als auf Hinz und Kunz zu warten … Die Fotografin wusste nicht, wo hinschauen. Wolfgang genoss das, bis er bemerkte, was sie plagte. Dann grinste er noch breiter und zog eine ziemlich hässliche rote Wolljacke über.

„Von Peter Boenisch“, nuschelte er mit der Pfeife im Mund.

„Ein Geschenk?“ fragte ich.

„Geschenk? Na ja.“ Er legte die hohe Stirn in Falten. „Man könnte so sagen. Aber nicht, dass Sie das schreiben, sonst will der Boenisch die Jacke wiederhaben.“

In dem Augenblick lernte ich meine erste Lektion. Sie lautete schlicht: Versuch gar nicht erst, witziger zu sein als er!

Man konnte sich bemühen – es ist ja gut im Leben, sich zu bemühen –, aber in diesem Fall machte es keinen Sinn: Wolfgang war meist schneller, fast immer witziger und garantiert böser.

Es gibt einen großartigen, wenig bekannten Film, den er um 1960 für seinen Freund Helmut Qualtinger geschrieben hat, „Mann im Schatten“. Da kommt ein deutscher Kommissar nach Wien und fragt den österreichischen Kollegen: „Haben Sie einen Anhaltspunkt? Eine Richtung, in die wir vorwärts marschieren können?“

Und der Kollege, Qualtinger natürlich, antwortet herablassend: „Wir marschieren nicht mehr, und vorwärts schon gar nicht.“

Das ist großartig, aber es ist noch großartiger, wenn man weiß, dass Wolfgang das einem Regisseur ins Drehbuch geschrieben hat, der in größeren Zeiten für Leni Riefenstahl arbeitete.

Was mich zurück zu meinem ersten Besuch bringt, zu seinem Ende. Denn nun wollte Wolfgang uns loswerden, angeblich um Drehbuch zu schreiben. Realiter natürlich, weil er noch nicht gefrühstückt hatte.

Im Interesse rudimentärer Glaubwürdigkeit und ziemlich stolz fuhr er also seinen Computer hoch. Eine hässliche DOS-Dose. Schwarzer Bildschirm, weiße Schrift. Null Graphik. State of the Art 1983. Veraltet also.

Was ich ihm auch sagte. Nicht, weil mich sein Computer sonderlich interessierte. Sondern weil ich sauer war, dass er uns so schnell rausschmeißen wollte.

Das sei der teuerste Computer, der auf dem Markt zu haben sei, schoss Wolfgang zurück. Ob ich denn einen besseren wüsste? Ja, sagte ich.

„Das wollen wir mal sehen“, sagte Wolfgang.

Meiner Erinnerung nach vergingen zwei, drei harte Wochen sokratischer Dialoge, bis wir beide zu HSD nach Moabit fuhren und Wolfgang sich für eine knapp fünfstellige Summe ins Macintosh-Universum einkaufte.

Das war der Beginn einer teuren Freundschaft – eines über 20 Jahre währenden computertechnischen Wettrüstens, das uns beiden viel Spaß brachte und für das sich Wolfgang auch mehr als entschädigen sollte – durch den Kauf von Apple-Aktien.

Und darin besteht die zweite Lektion, die ich aus seinem Beispiel lernte: Man muss, um es mit Rimbaud zu sagen, absolut modern sein.

Als Wolfgang 1924 geboren wurde, war der Film stumm. Das Fernsehen existierte lediglich als Konzept und Laborexperiment. Als er dann Ende der 50er Jahre, immerhin auch schon Mitte 30, für Film und Fernsehen zu schreiben begann, war der Tonfilm gerade ein Vierteljahrhundert alt und damit so jung wie gegenwärtig das WWW oder hyperrealistische Spiele. Und das Fernsehen war sogar noch jünger, als YouTube heute ist.

Vor ein paar Wochen schrieb Hans-Ulrich Gumbrecht über die Technikferne, wenn nicht Technikfeindlichkeit deutscher Intelligenz und über Heideggers Ahnung, dass die Technik unserer Gegenwart eine „uns gegebene Wahrheitschance“ enthalte. Ich musste sofort an Wolfgang denken. Er hätte es mit Sicherheit so nicht formuliert, aber er hat so gehandelt.

Ihm war der Computer nicht nur eine bessere Schreibmaschine. Er wollte die kulturellen und ästhetischen Implikationen von Digitalisierung und Vernetzung verstehen. Digitaler Kunst und Unterhaltung war Wolfgang denn auch nahe, lange bevor sie sich vor seinen Augen ausbildete. Schiller arbeitete heute fürs Fernsehen, meinte er in seiner großartigen Rede zum Schillerpreis. Und Wolfgang, wäre er noch einmal Mitte 30, arbeitete heute in der Games-Industrie.

Das demonstriert am deutlichsten das „Millionenspiel“, das sich aus der Perspektive der Gegenwart nicht nur als Antizipation der Auswüchse des Fernsehens versteht, sondern eben auch als Vorahnung von Alternate Reality Games und Pervasive Gaming. Schon rein technisch ist ja für alles, was da panoptisch angeblich 1970 geschieht, die Voraussetzung eine Überlagerung der Realität mit breitbandigen Kommunikationsstrukturen, wie sie erst 30, 35 Jahre später Wirklichkeit werden sollten.

Daran, an seine geradezu unheimliche Hellsicht, dachte ich bei meinem letzten Besuch am 11. Oktober, als ich wusste, dass es zu Ende ging.

Es war wieder ein sonniger Tag in Zehlendorf, diesmal Herbst. Doch Wolfgang kümmerte das alles nicht mehr, so, wie er in den Schläuchen lag. Blau und grün überall dort, wo sein Oberkörper in der Öffnung des Krankenhemdes zu sehen war. Der Mund eingefallen, die Nase so spitz, wie sie wird, wenn der Tod schon in uns sitzt. Sein Gesicht konnte ich kaum noch erkennen, doch er erkannte mich.

Und das Lächeln, mit dem er mich begrüßte, war unverkennbar Wolfgang.

Es war schwer, mit ihm zu reden. Aus mehr als einem Grund. Ich sagte also Dinge, die man so sagt – aber nicht sagen sollte, wenn man den anderen noch ernst nimmt: Etwa, dass er nächste Woche wieder zu Hause in der Klopstockstraße sein könne …

Wolfgang verzog den Mund, teils böse, teils spöttisch, auf jeden Fall unwillig.

Und das ist die dritte Lektion, die er mich lehrte. Wir sollten den Verstand, den wir nun mal haben – und Wolfgang hatte mehr als die meisten – nicht nur auf die Welt und die anderen richten, die halt oft die Hölle sind. Sondern auch mit einer gewissen Schärfe und Rücksichtslosigkeit auf uns selbst. Wie hätte er sonst je „Ein Herz und eine Seele“ oder „Motzki“ so kaltschnäuzig, so herz- und seelenlos und doch zugleich so anrührend und einnehmend schreiben können? Ich aber, das verriet sein anklagender Blick, wollte ihm am Ende unserer gemeinsamen Tage aus schierer Feigheit falsche Hoffnungen machen …

„Ich drücke die Daumen, dass du hier rauskommst“, sagte ich daher, meinen Mut zusammen nehmend, zum Abschied: „So oder so!“

Und Wolfgang nickte, lächelte, grimmig, zu allem entschlossen.

Dieses Lächeln, das letzte, was ich von ihm sah, ist bei mir geblieben.

So gesehen, Wolfgang, wie sehr wir dich auch vermissen, bist du jetzt – wo immer du bist – dort, wo du am Ende, ganz am Ende auch hin wolltest.

Wir anderen waren ja immer ein bisschen langsamer – wir kommen dann nach …

 

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