2000-08 Der Ritt in die Zukunft

Volltext:

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Der Ritt in die Zukunft. In: NZZ FOLIO, August 2000, S. 54-57.


 

Gundolf S. Freyermuth

Der Ritt in die Zukunft

Die digitale Technik lÀsst neue, multisensorische Unterhaltungsformen entstehen. Einen spektakulÀren Anfang machen die millionenteuren virtual rides von Las Vegas

„Ein Computerspiel, und ich bin mittendrin!“ Leon strahlt unglĂ€ubig und stellt sich gleich wieder fĂŒr eine weitere Reise in jene Zukunft an, wie sie Millionen Star-Trek-Fans vertraut ist. Der Kindergarten-Amerikaner ist fĂŒnf Jahre alt. Zwischen Windows und Mac OS kann er genauso gut unterscheiden wie zwischen Captain Picard und Commander Riker, und was die Joystick-Abwehr intergalaktischer Gegner angeht, ist er Veteran vieler virtueller Vernichtungsorgien.

In der High-Tech-Installation Star Trek: The Experience des Las Vegas Hilton ist er nun wie einst Alice unverhofft ins Wunderland geraten. Denn am Ende der Schlange Zeitreisewilliger, die sich durch den gewundenen Gang des Museums fĂŒr die Geschichte der Zukunft vorbei an Phaserwaffen und kuriosen Uniformen Außerirdischer zieht, wartet das 24. Jahrhundert. Es hat 70 Millionen Dollar gekostet und wird von zwei Dutzend Computern ferngesteuert.

Aller Anfang ist unspektakulĂ€r. Eine keineswegs futuristische Dame fĂŒhrt jeweils 27 Personen zu einem Fahrstuhl, der sie zu dem harmlosen, computersimulierten Raumflug bringen soll, den die 19.95 Dollar-Attraktion verspricht. In der klaustrophobisch engen Kabine laufen auf Videoschirmen Schnipsel alter Star-Trek-Folgen. Plötzlich ruckt der Lift hart. Die Monitore flackern, das hassverzerrte Gesicht eines Klingonen-Kriegers taucht auf.

Unsere Begleiterin blickt entsetzt in die Runde, doch schon kommt der totale Blackout. In der Finsternis tanzen winzige, rötliche Lichtpunkte, wie sie nicht nur jeder Trekkie kennt. Der Spruch „Beam me up, Scotty“ ist, schreibt der Physiker Lawrence M. Krauss in seiner amĂŒsanten Analyse der Star-Trek-Technik, so bekannt wie Ketchup. In den USA zumindest.

Kein Zweifel also, was in unserem steckengebliebenen Fahrstuhl gerade passiert: molekulare Desintegration! Wir werden weggebeamt – in die Zukunft.

Kalter Wind saust durch die Nacht von Raum und Zeit, bis es bange Sekunden spĂ€ter wieder Licht wird. Wo eben ein Fahrstuhl war, befindet sich jetzt der grell erleuchtete Transporterraum des Raumschiffs Enterprise. Erregte Sternenflotten-Offiziere sprechen von versuchtem Kidnapping. Wir werden zur Raumschiff-BrĂŒcke gehetzt, wo Star-Trek-Star Will Riker vom Videoschirm herab erklĂ€rt, ein Klingonen-General habe einen Zeitriss produziert, der uns aus dem 20. ins 24. Jahrhundert schleuderte.

Das Motiv der EntfĂŒhrung: Unter uns befindet sich ein Vorfahre Captain Picards. Der oder die vermag nun nicht mehr die Nachwuchskette in Gang zu setzen, weshalb sich der gute Captain in Luft auflöste, sobald die Reisegruppe aus der Vergangenheit im Transporterraum materialisierte.

Commander Riker befiehlt, uns umgehend in unsere eigene Zeit zurĂŒck zu verfrachten, auf dass wir unsere Zeugungspflichten fĂŒr die Zukunft erfĂŒllen. WĂ€hrend Klingonen-Kreuzer die Enterprise attackieren und arg durchschĂŒtteln, werden wir von Star-Fleet-Offizieren in die Shuttle-Bucht getrieben.

Mit einer Beschleunigung, die in die Sessel drĂŒckt, starten wir – und rasen direkt in das Sperrfeuer eines feindlichen Raumschlachtschiffs. Wir steigen auf und schleudern hinab, wir kippen nach vorne und neigen uns nach hinten, wir rollen, schlingern, wiegen und wanken, bremsen und tun das, was Nautiker gieren nennen.

Durch die sphĂ€risch gewölbten Panoramafenster des Shuttle können wir unseren Todessturz durch Raum und Zeit magenumdrehend verfolgen. Leon sitzt in der ersten Reihe. Eine klingonische Breitseite nach der anderen schleudert seinen schmalen Körper in dem viel zu großen Sitz hin und her. Er jauchzt vor VergnĂŒgen, wĂ€hrend die Ă€ltere Dame neben ihm zunehmend flau dreinschaut.

Nach drei Minuten Bewegungskino ist das raumzeitliche Wurmloch erreicht. Aus ihm fĂ€llt das Shuttle, vom feindlichen Raumkreuzer verfolgt und beschossen, steil hinunter in die Gegenwart. FunkensprĂŒhend knallen wir aufs Dach des Hilton, in dem unsere Zeitreise begann, und krachen in eine dunkle Lagerhalle.

Eine erboste Hausmeisterin öffnet die Shuttle-Klappe und fragt drohend: „Wer war der Pilot?“

Leon hebt grinsend seinen Arm und nimmt alle Schuld auf sich. Mit der anderen Hand öffnet er den Sicherheitsgurt.

Der Junge hat es eilig. Die Gegenwart, in der wir nach 22 Minuten wieder gelandet sind, gefÀllt ihm bei weitem nicht so gut wie die simulierte Zukunft. Zielsicher strebt er auf das hintere Ende der Warteschlange zu.

Bis zu 2000 zahlende Zeitreisende schleusen die futuristisch kostĂŒmierten Akteure, die hier sieben Tage die Woche vom frĂŒhen Morgen bis spĂ€t nachts Sternenflotte spielen, pro Stunde ins 24. Jahrhundert. Die 6000 Quadratmeter große Installation im Star-Trek-Hilton ist mit Abstand das aufwendigste und in ihrem Mix aus Live-Show, Kino und virtuellem Ritt auch experimentierfreudigste Hightech-Theater in Las Vegas.

Aber sie ist kein Einzelfall. Im Laufe der neunziger Jahre wurden hier Dutzende von Bewegungssimulatoren installiert.

Die bescheidenen AnfĂ€nge realistisch-virtueller AusflĂŒge, wie sie heute zum MassenvergnĂŒgen werden, datieren in die analoge Vorzeit. Bereits 1929 wurden in den USA erste Flugsimulatoren betrieben. Es handelte sich um Cockpit-Nachbauten, die auf hydraulischen, dreiachsigen Plattformen montiert waren. Sie rollten und kippten den Aktionen des Piloten entsprechend. Visuelles Feedback zu produzieren, diese Möglichkeit existierte in den Zeiten des schwarzweißen Stummfilms allerdings nicht. Die Trainingsmöglichkeiten beschrĂ€nkten sich auf den Instrumentenblindflug.

Dem Bildermangel konnte erst in den fĂŒnfziger Jahren die EinfĂŒhrung kommerzieller Videokameras ein Ende bereiten. Sie glitten an beweglichen Gelenken ĂŒber maßstabsgetreue Modelle von FlughĂ€fen und Landschaften. Im Verein mit den Bewegungsplattformen reagierten die Kameras auf die Steuerbefehle des Piloten exakt genug, um ihn ĂŒber die Modelle realistisch hinwegfliegen und auch in sie hinein landen zu lassen.

Im Laufe der nĂ€chsten 20 Jahre ersetzten immer bessere Simulationsanordnungen die Schwarzweißkameras durch farbige und erweiterten auch mit der Anzahl der eingesetzten Kameras die simulierte Perspektive. Der entscheidende Durchbruch in der Entwicklung realistischer Flugsimulatoren gelang freilich erst mit dem Einsatz von Computern seit Ende der sechziger Jahre.

Das Gros der virtuellen Ritte und Bewegungskinos, die heute solch militĂ€rische Simulatortechnik zu Unterhaltungszwecken einsetzen – etwa der Cinema Ride im Caesar’s Palace oder das Theater of Sensations im Venetian –, zielt auf reinen Jahrmarkts-Thrill und nicht auf die narrative Einbindung der multisensorischer Immersion, die EinhĂŒllung des Zuschauers in fiktive Welten.

Doch einige Spitzenproduktionen können sich durchaus mit Star Trek: The Experience messen, etwa das 35 Millionen Dollar teure Race for Atlantis. Dessen dramatische Elemente beschrÀnken sich zwar auf einen Wettkampf in der Videospiel-Tradition, den Ritt selbst aber machen die zum Greifen realistischen Imax-3D-Bilder zu einem einmaligen Erlebnis.

LĂ€ngst hat Las Vegas so, was die Produktion virtueller Unterhaltungswelten angeht, die großen Themenparks in Kalifornien und Florida ĂŒberholt – allein schon, weil sich die Stadt fĂŒr ĂŒber zehn Milliarden Dollar in einen gewaltigen urbanen Themenpark verwandelt hat. Nach einem Jahrzehnt hektischer BautĂ€tigkeit sĂ€umt den Strip – das glitzerndste StĂŒck Straße, das menschliche Augen je gesehen haben – eine bizarre Weltausstellung, in der imaginativ aufgebesserte RealitĂ€ten und historische Mythen zu Stein wurden: Luxor-Pyramide und Freiheitsstatue, König Arthurs bonbonbuntes Schloss und der Comer See, ein SĂŒdsee-Piratendorf, Kampanile und Dogenpalast …

Kulturkritiker beklagen gerne diese „Architektur der TĂ€uschung“. Doch die IllusionsĂ€sthetik ist fĂŒr unsere Epoche so aussagekrĂ€ftig wie zu anderen Zeiten die Pariser Passagen oder die New Yorker Skyline. Denn sie zeugt von der historischen Heraufkunft und sozialen Faszination digital generierter virtueller RĂ€ume. Setzten etwa die Stahl-Glas-Bauten des 19. Jahrhunderts die industrielle Eisenbahn-Erfahrung von Bewegung und Aussicht baulich um, so geht die Ästhetik der Hightech-Illusionskasinos am Strip offensichtlich auf die Prinzipien digitaler Montage und Bilderzeugung zurĂŒck – auf die alltĂ€gliche Erfahrung, dass RealitĂ€t elastisch wird, sobald sie in den Computer gerĂ€t. Wie sonst nur in Bildbearbeitungsprogrammen werden in der Illusionsarchitektur unerwĂŒnschte Elemente der realen Vorlagen eliminiert und neue Verbindungen und ÜbergĂ€nge zwischen Unverbundenem hergestellt. Am Ende der digitalen Manipulation steht in beiden FĂ€llen eine realistische Gegenwelt aus nahtlos verschmolzenen Wirklichkeitsfragmenten.

Anders als im Falle von 2D-Bildmontagen und anders auch als in den bescheidenen virtuellen 3D-Welten der Gegenwart können die am Computer entworfenen und dann realmontierten Kunst-StĂ€dte beziehungsweise StĂ€tten wie das New York, New York, das Paris oder das Venetian allerdings vom Betrachter betreten und mit allen fĂŒnf Sinnen erlebt werden. In der analogen Virtualisierung der RealitĂ€t antizipiert die Illusionsarchitektur von Las Vegas so die digitale Realisierung von VirtualitĂ€t. Insofern stellen die boomenden virtual rides eine logisch nĂ€chste Stufe dar – den Versuch, die thematisch konstruierten PostrealitĂ€ten auch dramatisch zu inszenieren und so die fantastischen RĂ€ume mit erzĂ€hlerischem Leben zu erfĂŒllen.

„Indem die Kasinos ‚Attraktions-Ferienorte’ errichten, in deren Zentrum Fantasieerfahrungen stehen“, schreibt Virtual-Reality-Theoretiker Howard Rheingold ĂŒber die eskalierende Entrealisierung von Las Vegas, â€žĂŒbernehmen sie von Filmemachern und Themenparks das Spitzen-Illusions-GeschĂ€ft.“

Geld spielt zudem, wenn es in der boomenden Unterhaltungsmetropole um Publikumsattraktionen geht, kaum eine Rolle – weshalb sich hier mehr noch als in Hollywood und Umgebung die Ausbildung neuer Unterhaltungsformen beobachten lĂ€sst. Sie reagieren Ă€sthetisch auf die Erfahrung von Digitalisierung und Virtualisierung wie einst die Erfindung des Kinos auf Industrialisierung und VerstĂ€dterung.

Einem Publikum, in dessen Arbeits- und Privatleben zunehmend Papier durch Bits, LagerbestĂ€nde durch DatenflĂŒsse und reale Prozesse durch simulierte ersetzt werden, versprechen die immersiven Hightech-Installationen etwas, was die analogen Unterhaltungsformen der industriellen Epoche nicht bieten können: physische Teilhabe an der Simulation.

Experimente zur Nutzung militĂ€rischer Simulatorentechnik fĂŒr unterhaltende virtual rides wurden bereits in den 1970er und frĂŒhen 1980er Jahren angestellt. Die mangelnde LeistungsfĂ€higkeit im Verein mit den horrenden Kosten der damaligen Computer ließen diese frĂŒhen Versuche, den Schritt vom passiven Kinoerlebnis zum physisch erlebbaren Mitspielfilm zu vollziehen, jedoch schnell an ihre Grenzen stoßen. Die ersten kommerziellen Ritte entstanden dann Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre auf Initiative von George Lucas und Steven Spielberg: Star Tours, das auf der Star-Wars-Serie basierte und 1989 in Disneyland eröffnete, und die Back to the Future-Attraktion. Sie realisierte fĂŒr 60 Millionen Dollar und in fast vierjĂ€hriger Arbeit der Trickspezialist Douglas Trumbull fĂŒr Universal Studios.

1994 ĂŒbertraf er diesen Erfolg noch mit In Search of the Obelisk. Von der bahnbrechenden Installation schwĂ€rmte nach der Eröffnung das Tech-Magazin Omni, sie bedeute eine „Revolution“ und kĂŒnde von „the future of fun“, der Zukunft des VergnĂŒgens. Der virtuelle Ritt setzte den Goldstandard fĂŒr das junge Genre und löste in Las Vegas einen Simulatoren-Boom aus. In aktualisierter Form wird In Search of the Obelisk bis heute im Luxor betrieben, dem pechschwarzen Pyramiden-Hotel am Ende des Strip, an dessen gekippter Fassade sich anstelle von FahrstĂŒhlen um 39 Grad geneigte Inklinatoren hochhangeln.

Im Innern findet sich eine 15 Stockwerke hohe Luxor-Imitation samt archĂ€ologisch korrekter Kopie der Grabkammer Tutanchamuns. Und unter ihr – so will es Trumbulls Indiana-Jones-artige Fiktion – ein Tausende von Metern tiefes Unterwelts-Labyrinth mit den Spuren einer vor 100 000 Jahren untergegangenen Hochzivilisation. Zu deren Hinterlassenschaft gehören mysteriöse Hightech-Schlitten und ein Obelisk, der Raum und Zeit manipuliert.

Diesen Wunderstein wollen sowohl der besessene Dr. Osiris wie brutale US-MilitĂ€rs in ihren Besitz bringen. Gegen die KrĂ€fte des Bösen steht ein junges Paar, die ArchĂ€ologin, die das unterirdische Reich entdeckte, und der Mann, dem das WĂŒstengrundstĂŒck gehörte. Wir nun, ein Dutzend zahlende Mitspieler, geraten auf einen der Hightech-Schlitten und in einen rasenden Ritt zwischen alle Fronten.

Trumbull ist ein Pionier der Special-Effects-Branche. Zu seinen Hollywood-Meriten gehören die Tricks in SF-Klassikern wie 2001 – A Space Odyssee, Third Encounter of the Close Kind und Bladerunner. Doch ĂŒber den analogen Tonfilm strebte er stets schon hinaus. Bereits 1974 konstruierte er den ersten simulierten Ritt in einer Raumkapsel, 1981 baute er das erste eigenstĂ€ndige Simulationstheater. FĂŒr seinen Luxor-Ritt verwendete er ein selbstentwickeltes BewegungsgefĂ€hrt und ein halbes Hundert Workstations. Das Ergebnis war zum erstenmal so realistisch, dass Sensiblen schwindelig wird – obwohl das ruckelige GefĂ€hrt sich nie mehr als ein paar Zentimeter bewegt.

„Die Simulatoren sind revolutionĂ€r, sie erzeugen einen simulierten Ritt, der alle QualitĂ€ten eines Spielfilms besitzt“, sagt Trumbull. Sein erklĂ€rtes Ziel ist es, eine neue Kunstform zu schaffen, in der sich Narration mit physischer Erfahrung verbindet. Der Luxor-Ritt war fĂŒr ihn „ein Experiment, wie man durch sorgfĂ€ltige Kontrolle von Filmaufnahmen und Projektionsverfahren endlich die Grenze zur vollstĂ€ndigen GlaubwĂŒrdigkeit ĂŒberschreiten kann, so dass ein Film wie ein Live-Ereignis erscheint” – inklusive rudimentĂ€rer Interaktion des Publikums mit den handelnden Figuren. „Man schaut sich nicht einfach einen Film an, man spielt in dem Film mit, man wird zum Darsteller.“

Zweifelsfrei machen sich die besten Kombinationen von laufenden Bildern mit Bewegungsplattformen die technischen wie Ă€sthetischen Errungenschaften digitaler Illusionierung radikaler zunutze, als es im Rahmen des ErzĂ€hlkinos gelingt. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Integration der neuen, tendenziell dreidimensionalen und personalisierten Simulatoren-Perspektive in erzĂ€hlerische Kontexte. Denn die Flugsimulatoren-Ästhetik stellt eine konsequente Fortsetzung der generellen Tendenz zur Subjektivierung in der Kunst und Unterhaltung des 20. Jahrhunderts dar, wie sie sich etwa im stream of consciousness oder der subjektiven Kamera des experimentellen Kinos zeigt.

In ihrer Studie Virtualities: Television, Media Art, and Cyberculture beschreibt Margaret Morse das allmĂ€hliche Eindringen solcher Simulatoren-Bildlichkeit ins Fernsehen und Kino. Was wir heute als klassische Videospiel-Ästhetik kennen, gelang begann mit George Lucas’ berĂŒhmter Death-Star-Szene in Star Wars. Diese Eroberung subjektivierter und derweil auch dreidimensionaler Bildlichkeit, wie sie die SimulatorenĂ€sthetik prĂ€gt, wird von Kritikern und KĂŒnstlern mit der Entdeckung und Entwicklung der 2D-Perspektivik in der Renaissance-Malerei verglichen: Wieder eröffnen sich neue Blickweisen und werden traditionelle Vorstellungen von kĂŒnstlerisch gestalteter RĂ€umlichkeit in Frage gestellt.

Den innovativen Techniken und der aus ihnen resultierenden neuen Ästhetik entsprechen jedoch bislang kaum ebenso innovative Inhalte. Der Vorteil, dass keine jahrhundertealte Tradition das neue Genre belastet, hat nicht zu ĂŒberraschenden und intellektuell spannenden Werken gefĂŒhrt. KĂŒnstlerisch bleiben die virtuellen Ritte durchweg so unbefriedigend wie einst die ersten Produkte des Stummfilms. Im Kontrast zu den avancierten technischen Mitteln fĂ€llt die KonventionalitĂ€t der immersiven Handlung umso deutlicher auf, ihre peinlich-pedantische Konstruiertheit aus abgehangenen massenkulturellen VersatzstĂŒcken.

Mit dem Scheuklappenblick aufs AllerpopulĂ€rste stehen die High-Tech-Installationen allerdings in der besten Tradition des Jahrmarktsgewerbes, das seit Anbruch der industriellen Epoche avancierte Techniken stets vor den KĂŒnsten einsetzte und natĂŒrlich nicht zu Ă€sthetisch-avantgardistischen, sondern zu rein spektakulĂ€ren Zwecken. Kirmesunterhaltung will Thrills produzieren, nicht ausgefĂŒhrte ErzĂ€hlungen oder komplexe Einsichten. Noch den besten virtuellen Ritten merkt man diese Herkunft aus der Schaustellerei an.

Installationen wie In Search of the Obelisk oder Star Trek: The Experience streben jedoch bereits nach elaborierteren Ă€sthetischen Sensationen. „Die Erfahrung, die die meisten Menschen ĂŒber die Jahre hinweg mit Star Trek hatten, beschrĂ€nkte sich darauf, Fernsehen zu gucken oder ins Kino zu gehen“, sagt etwa Produzent Rick Berman: „Dies hier nun sprengt das Proszenium hinweg. Hier ist ein Platz, an den die Leute gehen und wirklich Star Trek erleben können.“

Die virtuellen Ritte beweisen so, dass die Hetzjagd der Unterhaltungsmacher nach traumhaft-interaktiven Fiktionen begonnen hat. Die Parallelen zum utopischen Holodeck fallen ins Auge, dem virtuellen VergnĂŒgungszentrum der Star-Trek-Zukunft, in dem die Besucher mit virtuellen Welten und holographisch erzeugten Charakteren interagieren. „Ich habe wenig Zweifel“, meint Lawrence Krauss in seinen Überlegungen zu Hologramm-Fiktionen und zur technisch-physikalischen (Un-) Möglichkeit von Holodecks, „dass die versuchsweisen VorstĂ¶ĂŸe unseres Jahrhunderts in die virtuelle RealitĂ€t uns in die Richtung von etwas fĂŒhren, das dem Holodeck sehr Ă€hnelt, zumindest im Geiste.“

Douglas Trumbull und George Lucas denken genauso: „Wir sind nicht mehr weit davon entfernt, Bilder, Erinnerungen, emotionale ZustĂ€nde direkt im Gehirn zu stimulieren“, meint Trumbull. Die rein mechanische Erzeugung sinnlicher Sensationen hĂ€lt er fĂŒr eine vorĂŒbergehende Unterentwicklung. Und auch Lucas prophezeit Fiktionen, die technische mit biologischer Stimulation verbinden: „Diese Kombination wird die denkbar grĂ¶ĂŸten Auswirkungen auf die Art von GeschichtenerzĂ€hlen haben, die wir heute betreiben. Die Entwicklung geht bereits in die Richtung – wir erschaffen Bilder, ohne sie tatsĂ€chlich zu fotografieren, genauso, wie man sie in einem Traum erschafft.“

Kritische EinwĂ€nde, etwa gegen die banalen Inhalte dieser neuen, sinnlich-immersiven Fiktionen, helfen gegen deren phantasmatische Macht wenig. Wer in Leons glĂŒckliches Gesicht schaut, wĂ€hrend der Junge zum dritten Mal das Shuttle zum Star-Trek-Ritt besteigt, darf vermuten, dass er als Erwachsener Vorbehalte gegen die SimulatorenĂ€sthetik genauso wenig verstehen wird, wie sein Vater bis heute die einstigen Attacken gegen Comics, Rock’n’Roll oder die Beat-Literatur. Nicht in der reservierten RationalitĂ€t der analog Gebildeten, sondern in den leuchtenden Augen der digital Erfahrenen spiegelt sich die Zukunft der Unterhaltung, wie sie in den virtuellen Ritten von Las Vegas heraufzieht.

 

Dieser Artikel findet sich – leicht gekĂŒrzt – ebenfalls auf der Website von NZZ FOLIO unter http://www.nzzfolio.ch/www/d80bd71b-b264-4db4-afd0-277884b93470/showarticle/3aa0f72e-7c3d-4724-8254-cd40bc72a74a.aspx