2009-01 Digitale Lektionen

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Digitale Lektion: Medien(r)evolution in Film und Kino. In: FILM-DIENST 02/09, 15. Januar 2009, S. 6-9.

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Digitale Lektionen

Medien(r)evolution in Film und Kino

Von Gundolf S. Freyermuth

Der Untergang des guten alten Kratz-, Ruckel- und Ratterkinos durch digitale Magie wird seit anderthalb Jahrzehnten beschworen – ebenso wortreich wie bislang verfrĂŒht. Schon Mitte der neunziger Jahre prognostizierte der Medientheoretiker Lev Manovich das Ende des Kinos als Kunst der IndexikalitĂ€t. Analoger Film muss Live-Handlungen reproduzieren, schrieb er in „What is Digital Cinema“ (1996). Diese BeschrĂ€nkung der cinematischen Imagination aber werde digitaler Film mittels fotorealistischer Filmmalerei und Animation aufheben. In der Folge verkĂŒndete ich den „Tod des Tonfilms“ (1997), Joachim Polzer diagnostizierte „Film Is Over“ (1999) und Godfrey Cheshire  schilderte „The Death of Film / The Decay of Cinema“ (1999).

Niemand aber brachte die damals kursierende Einsicht in die Krise des analogen Mediums Film – des Speichermaterials Zelluloid, der fotorealistischen Darstellungs- und ErzĂ€hlformen, der traditionellen AbspielstĂ€tte Kino – so klug und zugleich amĂŒsant auf den Punkt wie Walter Murch. Mit Blick auf das Ende des 20. Jahrhunderts, des Jahrhunderts des Films, verglich der Pionier digitalen Ton- und Bildschnitts und mehrfache Oscar-PreistrĂ€ger den Status Quo jener Zeit mit einem typisch amerikanischen Sandwich: Zwischen zwei dĂŒnnen Brotscheiben, den analogen Dreharbeiten und dem analogen Verleih, lagere das dicke Fleisch, die digitale Postproduktion. Der hybride Übergangszustand, meinte Murch in „The Future – A Digital Cinema of the Mind? Could Be“ (1999) werde in weniger als zehn Jahren einer kompletten Digitalisierung der Filmkunst weichen.

 

Das Gesetz des technologischen Fortschritts

Diese Visionen sollten heute, zu Beginn des Jahres 2009, lĂ€ngst Wirklichkeit sein – und werden es doch, wenn ĂŒberhaupt, gerade erst. Nicht wenige Filmschaffende sehen daher den Übergang derweil als Dauerzustand an, in dem es sich einrichten und ĂŒberleben lĂ€sst. RĂŒckblickend scheint diese Haltung nicht falsch, fĂŒr jene jedenfalls, denen es weniger um Pioniertaten und mehr um sicheres Einkommen ging. In den letzten Jahren jedoch begann deutlich der zweite Teil von Roy Amaras Gesetz des technologischen Fortschritts zu greifen. „Wir neigen dazu“, beobachtete der MitbegrĂŒnder des kalifornischen Institute for the Future, „die kurzfristigen Auswirkungen einer Technologie zu ĂŒberschĂ€tzen und die langfristigen Auswirkungen zu unterschĂ€tzen.“

Nicht zuletzt der Siegeszug des analogen Films selbst belegt Amaras Beobachtung. Im Hinblick auf sein zukĂŒnftiges Schicksal und das seiner Institutionen bedeutet das zitierte Gesetz daher: Zwar kam der digitale Wandel nicht so kurzfristig, wie einige hofften oder befĂŒrchteten. Nun aber – fast 35 Jahre nach der ersten Verschaltung eines Computer und einer Filmkamera; zwei Jahrzehnte nachdem Industrial Light & Magic die Umstellung von analogen auf digitale Produktionsweisen begann; ein Jahrzehnt nach dem ersten digitalen Master und der ersten digitalen FilmvorfĂŒhrung – treten wir in die Phase langfristigen Wandels ein. Und der pflegt meist weitreichender auszufallen, als selbst Enthusiasten es sich ursprĂŒnglich ausmalten.

 

Historische Parallelen: die drei Krisen des Kinos

Um die historische Reichweite des aktuellen Geschehens zu verstehen, mag man sich daran erinnern, dass diese Krise bereits die dritte ist, die das Kino befallen hat. Die erste ging in den fĂŒnfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf die Konkurrenz des Fernsehens zurĂŒck. FĂŒr die zweite zeichnete drei Jahrzehnte spĂ€ter die EinfĂŒhrung des Videorekorders verantwortlich. In beiden FĂ€llen waren es Fortschritte der Heimunterhaltung, neuartige Distributionsmechanismen, aber auch innovative Formen audiovisuellen ErzĂ€hlens, die das Kino an Bedeutung und PopularitĂ€t verlieren ließen.

Diese Krisen des Kinos bewirkten bald auch eine Krise des Films, einen ökonomischen und Ă€sthetischen Anpassungsdruck, der zur Neustrukturierung der Filmindustrie und zur Ă€sthetischen Neuorientierung der Filmkunst fĂŒhrte. Letztere wurde von gewandelten PublikumsbedĂŒrfnissen getrieben. Sie resultierten aus VerĂ€nderungen in Alltag und Arbeit und realisierten sich Ă€sthetisch zunĂ€chst in den neuen, analog-elektronischen Medien. Der Film fand in beiden FĂ€llen den kĂŒnstlerischen Anschluss erst mit Verzögerung; im Falle der vom Fernsehen ausgelösten Krise etwa durch die Bewegungen des jungen Films, von der Nouvelle Vague bis zu New Hollywood.

Dasselbe dreifache KrÀftespiel kennzeichnet nun die gegenwÀrtige Krise.

Zum einen reduziert stationĂ€re wie mobile digitale Breitbandvernetzung einmal mehr die Bedeutung des Kinos. Das Fernsehen transportierte Spielfilme in die PrivatsphĂ€re. Videorekorder und Kaufkassette leisteten seit den achtziger Jahren dasselbe, machten aber zusĂ€tzlich unabhĂ€ngig von Fremdbestimmung durch Kino- oder Fernsehprogramm. Die digitalen Netze offerieren nun ebenfalls, was TV und Videorekorder an Heimunterhaltung zur VerfĂŒgung stellen. Dabei ĂŒbertreffen sie deren mediales Angebot quantitativ wie qualitativ, indem sie etwa zur On-Demand-Abruf in Echtzeit ermĂ€chtigen und solche Zugriffe nicht allein stationĂ€r in der SphĂ€re des privaten Heims, sondern auch mobil ermöglichen.

Zum zweiten leitet die aktuelle Krise des Kinos wiederum eine wirtschaftliche Neuorientierung ein. Schon das Fernsehen brachte die Filmwirtschaft nicht allein in BedrĂ€ngnis. Zugleich erschloss es einen neuen Markt und sorgte indirekt fĂŒr staatliche Filmförderung. In Deutschland geriet die Filmproduktion so in die doppelte AbhĂ€ngigkeit von TV-Auswertung und koproduzierenden Sendern einerseits, von Fördergremien andererseits. Mit dem Videorecorder entstand zwar die Möglichkeit zum Direktverkauf an Endkonsumenten (Kassette, spĂ€ter DVD). Sie vermochte jedoch nicht aus den bestehenden AbhĂ€ngigkeiten zu befreien. Nun eröffnet immaterieller Direktvertrieb ĂŒber digitale Netze weitere Einnahmequellen und Finanzierungsmodelle, ob ĂŒber Portale (etwa iTunes und YouTube) oder durch P2P-Hyperdistribution (etwa Bittorent). Radikal neu daran ist freilich das Moment sozialer wie technischer Demokratisierung: dass diese digitalen Mittel und Wege nicht allein Produktionsfirmen, Verleihern, Sendern zur VerfĂŒgung stehen, sondern einzelnen Nutzern des Internet.

Zum dritten verĂ€ndern sich ErzĂ€hlweisen und audiovisuelle Gestaltung. Einst wurde der Einfluss der konkurrierenden elektronischen Medien auf den Film unĂŒbersehbar, beklagt als „FernsehĂ€sthetik“ oder „Videolook“. Aktuell erleben wir Experimente mit Mutationen des Fotorealismus, etwa der VerrĂ€umlichung des ErzĂ€hlens, nonlinearen Zeitstrukturen, subjektiven und de-authentifizierenden Montagen, textuellen und dokumentarischen Elementen. In ihrer Gesamtheit erscheinen diese Ă€sthetischen Neuerungen eine Konsequenz der Erfahrung des digitalen Transmediums, des Surfens im WWW und vor allem des Interagierens in Off- und Online-Spielwelten.

 

Kategoriale Differenzen: Vom Hardware- zum Software-Film

Diese letzte Beobachtung weist freilich auf die SchwĂ€che des historisch vergleichenden Blicks: Er entdeckt auffĂ€llige Parallelen und ĂŒbersieht dabei entscheidende Differenzen. Denn allen Übereinstimmungen zum Trotz ist der gegenwĂ€rtige Umbruch einzigartig. In den beiden vorherigen Krisen bedrohten aufkommende Konkurrenzmedien den Film von außen, indem sie seine wirtschaftliche Auswertung und Ă€sthetische Gestalt in Frage stellten. Er selbst, das audiovisuelle Medium, blieb dem Prinzip nach unverĂ€ndert. Die Digitalisierung jedoch bedeutet mehr als Ă€ußere Konkurrenz durch neue DistributionskanĂ€le wie Fernsehen, Video oder Internet und neue A/V-Genres wie Fernsehspiel, Soap oder Game. Der Film selbst ist nun betroffen: Er wird von einem Hardware- zu einem Softwaremedium und verĂ€ndert sich damit kategorial. Insofern sind wir nicht nur Zeitzeugen der dritten Krise und Marginalisierung des Kinos. Mit dem Digitalfilm entsteht eine neue Variante audiovisueller Kunst und Kommunikation.

Um sie zu verstehen, braucht es neben dem Blick auf die historischen Parallelen die Einsicht in die grundsĂ€tzlichen Unterschiede analoger und digitaler MedialitĂ€t: Zum einen unterliegt Handeln im Medium der Software – wie jede mathematische Operation – nicht dem Zeitpfeil. Zum zweiten kann Software nicht nur die QualitĂ€ten der analogen Mittel und Medien bewahren, die sie ersetzt, sondern prinzipiell auch das Know-how derjenigen, die mit ihnen arbeiteten. Aus dieser kategorialen Differenz von Hardware-Handwerksarbeit und Software-Wissensarbeit versteht sich der praktische wie Ă€sthetische Wandel, dessen Beginn wir erleben.

 

Mit der Hardware, analogen Mitteln und Speichermedien, schĂŒttelt die filmische Produktion den Zwang zur LinearitĂ€t ab. Die industriell etablierten Phasen werden obsolet und mit ihnen das hohe Maß an Arbeitsteilung. Filmproduktion kann in all ihren ĂŒberkommenen Stadien, vor allem aber in dem, was unter analogen UmstĂ€nden die Postproduktion war, zu einem Prozess werden, in dem Filmemacher  – Tom Tykwer etwa hat das beschrieben – interaktiv mit dem eingefangenen oder digital generierten Material umgehen und es nach Belieben manipulieren.

Dem Schwinden der Produktionsphasen korreliert die Aufhebung der Trennung zwischen Herstellung, Distribution und Rezeption. Software-Werke bilden im Gegensatz zu Hardware-Werken keine abgeschlossenen Einheiten. Sie bleiben offen fĂŒr arbitrĂ€re VerĂ€nderung durch beliebige Nutzer. Anders als analoge Massenmedien stellen digitale Netze zudem den notwendigen RĂŒckkanal zur VerfĂŒgung. Insofern entsprechen dem director’s cut lĂ€ngst Fancuts, Mashups und Remixes , Modifikationen eines oder mehrerer Filme durch ihre Nutzer. Einen Schritt weiter in der Realisierung digitaler AudiovisualitĂ€t geht die Vielzahl jĂŒngster Projekte und Portale zur Online-Finanzierung originĂ€rer Werke (etwa nach dem Subskriptionsmodell) oder zur kollaborativen Online-Produktion (etwa nach dem Vorbild von Open-Source-Software).

KĂŒnstlerische und Ă€sthetische Konsequenzen dieses Wandels filmischer Praxis zeichnen sich heute schon ab. So zerfĂ€llt der strikte Gegensatz zwischen Amateuren und Profis. Die einen professionalisieren sich mittels erschwinglicher Hard- und wissensgesĂ€ttigter Software, beobachtete jĂŒngst der Filmkritiker A. O. Scott, wĂ€hrend die anderen die innovative VisualitĂ€t von Handy-Videos Ă€sthetisch zu integrieren suchen. Weitreichender noch stehen zentrale Sachverhalte industrieller Kultur zur Disposition: auf der Produktionsseite etwa eine identifizierbare Autorenschaft und die IntegritĂ€t von Werken, auf der Rezeptionsseite die Fremdbestimmung durch Programme und die GĂŒltigkeit von Urheberrechten.

 

Neue Bilder, neue Zukunftsvisionen

MedienĂ€sthetisch gemahnen einige Entwicklungen an vorindustrielle VerhĂ€ltnisse, insbesondere der Verlust medial verbĂŒrgter AuthentizitĂ€t und die sukzessive Abkehr von den visuellen wie narrativen Konventionen des Fotorealismus. Sie begann mit den Musikvideos der achtziger Jahre und lĂ€sst sich in der Gegenwart gerade in avancierten Werken des kommerziellen Kinos beobachten, von Wakening Life (2001) ĂŒber Polar Express (2004) und Sin City (2005) zu Renaissance (2006), A Scanner Darkly (2006) und Beowulf (2007).

ZukunftstrĂ€chtiger jedoch als solch eher rĂŒckwĂ€rtsgewandte Orientierung, wie sie schon Mitte der neunziger Jahre Lev Manovich mit der Wanderung prĂ€-fotorealistischer Animation von den RĂ€ndern audiovisueller Produktion in deren digitales Zentrum behauptete, scheint mir die Aussicht auf einen nachhaltigen Entwicklungssprung audiovisueller Kultur und damit filmischen ErzĂ€hlens.

Ihn prognostizierte jĂŒngst Kevin Kelly – in der New York Times, die vor zehn Jahren schon Walter Murchs inspirierte Prognose zur Zukunft des Films publizierte. Die Online-Akkumulation des filmischen Erbes plus einiger Milliarden Amateurvideos, schreibt Kelly in „Becoming Screen Literate“,  begrĂŒnde eine nie gekannte individuelle VerfĂŒgung ĂŒber laufende Bilder aller Art. Im Verein mit der wachsenden FĂ€higkeit, diesen Bilderschatz wie unseren Wortschatz nach Belieben zu kombinieren, entstehe eine gĂ€nzlich neue Kultur audiovisuellen Ausdrucks. Wie also Romane aus dem Reservoir existierender Vokabeln formuliert werden und nicht aus eigens produzierten Lautkombinationen, so werden A/V-KĂŒnstler zukĂŒnftig nicht mehr selbst in der analogen Wirklichkeit drehen mĂŒssen, sondern ihre Narrationen souverĂ€n aus dem Reservoir digitaler Bilderbanken formen können.

Was freilich die NĂ€he des Zeitpunkts angeht, an dem diese Ă€ußerst verfĂŒhrerische Vision allenfalls Wirklichkeit werden könnte, erinnere ich an Roy Amaras Gesetz.

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