1998-02 Cyborgs unter uns

Volltext:

Picture12 small

Cyborgs unter uns. In: NZZ FOLIO, Februar 1998, S. 28-34.

 

Gundolf S. Freyermuth

Cyborgs unter uns

Wearables, PCs, die sich am Körper tragen lassen, mixen die Alltagswelt mit dem Datenraum. Und Softwear-Prototypen, Kleidungs-Computer, wollen die Menschheit dauerhaft mit ihren Maschinen vernetzen. In den Laboren aber werkelt man lÀngst an der nÀchsten Stufe: PC-Implantaten.

Der erste Cyborg, der mir im Alltag begegnete, war eine Sie, eine T-Shirt-Turnschuh-Schönheit Mitte Zwanzig mit langen, blonden Haaren, einem Pentium-Prozessor, Funkmodem, Handscanner und Thermo-Drucker. Auf dem Kopf trug sie eine Baseballkappe verkehrtherum, und um ihre Lippen schwebte ein Mikrophon, kaum grĂ¶ĂŸer als ein Leberfleck. Die goldene Haut ihrer muskulösen Oberarme und durchtrainierten Schenkel wie auch der harte mitteleuropĂ€ische Akzent, mit dem sie sprach – mal zu mir, mal zu der unsichtbaren Zentrale –, gemahnten von Ferne an Schwarzeneggers Terminator.

Wir standen, es ist bald ein Jahr her, auf einer drĂŒckend heißen BetonflĂ€che bei LAX, dem internationalen Flughafen von Los Angeles. Über uns donnerten die Jets zum Greifen nahe, und hoch darĂŒber brannte die Sommersonne Löcher durch die gelben Smogwolken. Die Seriennummer des Mietwagens, den ich zurĂŒckgeben wollte, hatte meine vollautomatisierte Kundendienstlerin bereits gescannt, nun tippte sie Meilen- und Benzinstand in ihren GĂŒrtelcomputer ein. Das Funkmodem ĂŒbermittelte die Daten dem Zentralrechner.

„Bald werden die Wagen hoffentlich intelligentere Bordcomputer haben, in die wir uns direkt einstöpseln können“, meinte Katja, wĂ€hrend wir darauf warteten, dass die Endabrechnung aus dem Drucker an ihrer HĂŒfte quoll. Das Cyborg-MĂ€dchen stammte aus Ungarn. An den Pazifik hatte sie das Surfen gelockt, der Teilzeitjob als Mietwagen-Hostess finanzierte den sonnigen Lebensstil.

Was aber, fragte ich, wenn die Autos so intelligent werden, dass sie selbst per Funkmodem alle notwendigen Daten ĂŒbermitteln können? Technisch sei das schon heute kein Problem, meinte Katja ohne Illusionen, lediglich eine Kostenfrage: „Noch bin ich billiger.“ Der Gedanke, ĂŒberflĂŒssig zu werden, schrecke sie aber nicht. „Die wearables“, sagte sie und fuhr mit einer stolzen Geste ĂŒber ihre Ausstattung, als stĂŒnde sie mit einem neuen Abendkleid vorm Spiegel, „machen aus jedem einen Experten fĂŒr alles.“

Die amerikanische Luftwaffe nennt das on the job training. Wie Armee und Marine hat sie Wartungspersonal und Soldaten mit Körper-Computern ausgestattet. Die bestehen meist aus einer RAM-starken Pentium-CPU, die zusammen mit den Batterien am GĂŒrtel, im Schulterhalfter oder am Bein getragen wird, sowie einem Helm samt Mikrophon, Lautsprechern, durchsichtigem Datenvisier oder einem einĂ€ugigen Active-Matrix-Display von ein bis vier Zentimetern GrĂ¶ĂŸe. Dazu gehören LesegerĂ€te fĂŒr CD-Roms oder Speicherkarten, ein Sender fĂŒr den Sprechfunk sowie ein Funkmodem fĂŒr die Datenverbindung. Gesteuert werden die Körper-Computer ĂŒber winzige Arm-Tastaturen oder schlichte Sprachbefehle.

FĂŒr den Wartungsdienst am wichtigsten ist die Erzeugung von augmented reality, einer aufgebesserten RealitĂ€t, in der Wirklichkeit mit dem virtuellen Reich der Daten verschmilzt. Das erlaubt den Mechanikern, Maschinen zu reparieren, die sie im Leben nicht gesehen haben: indem sie sich deren Anleitungen im Wortsinne vor Augen rufen, auf den Schirm ihres Datenhelms. Der Computer fĂŒhrt sie dann Schritt fĂŒr Schritt durch den Reparaturprozess, dabei den Reale-Welt-Anblick der Maschinen mit den Projektionen hilfreicher Diagramme ĂŒberlagernd.

Doch nicht nur in der Etappe kommen die ein bis drei Kilo schweren Körper-Computer zum Einsatz. In Bosnien etwa dienen sie den US-Soldaten bei der MinenrĂ€umung zur Kommunikation mit den Einheimischen: Was die GIs sagen, ĂŒbersetzen ihre wearables live ins Serbokroatische und verkĂŒnden es der verblĂŒfften Landbevölkerung per akzentfreier Robotstimme aus Lautsprechern, die in die KampfanzĂŒge eingearbeitet sind.

Die Cyborg-Soldaten nĂ€mlich benutzen ihre Bord-Computer auch im Ernstfall. 750 Millionen Dollar hat die US-Armee bereits fĂŒr die Aufstellung einer Hightech-Eingreiftruppe ausgegeben, eine weitere Milliarde wurde gerade fĂŒr Army 21, die Armee des 21. Jahrhunderts bewilligt. Wearables sollen dabei vor allem Kommunikation und AufklĂ€rung erleichtern: Cyborg-Krieger stehen in stĂ€ndigem Kontakt mit ihren MitkĂ€mpfern und fernen Kommandeuren, und sie sind auch mit den Zentralcomputern der Armee vernetzt und können sich so nötige Informationen auf die Schirme ihrer Datenhelme holen, von Spionage- und Wetterberichten ĂŒber Orientierungshilfen des Global Positioning Systems (GPS) bis zu Echtzeit-Bildern, die AufklĂ€rungshubschrauber oder Satelliten von unĂŒbersichtlichem GelĂ€nde oder Feindbewegungen liefern.

Das MilitÀr war, dank seiner gewaltigen Forschungsetats, Vorreiter im Trend zu wearables. Inzwischen allerdings stehen Hunderttausende solcher Umschnall-Computer mit und ohne Datenhelm auch im zivilen Einsatz: in Produktion und Service, bei Polizei und anderen Notdiensten.

  • Arzneimittelhersteller wie Betreiber von HĂŒhnerfarmen, haben ihre Arbeiter mit Körper-Computern ausgestattet und damit den aufwendigen Prozess von Lagerhaltung, Auslieferung, Nachbestellung und Abrechnung vom Papierkrieg befreit.
  • Hightech-Hersteller, darunter Boeing, produzieren die Anleitungen fĂŒr Reparatur und Wartung ihrer Produkte nicht mehr auf Papier, sondern in Hyper-Formaten auf CD-Roms und Speicherkarten fĂŒr wearables. Finanziert von der Defense Advanced Research Group (DARPA) des Pentagon, die einst das Internet aufbauen ließ, hat Boeing nun auch ein eigenes wearable-System namens MARSS entwickelt.
  • Die Fahrer privater Expressdienste scannen Sendungen nach Erhalt ein und funken die Daten zum Zentralcomputer, so dass zum Beispiel die Kunden von UPS und Federal Express bereits Minuten nach Abholung den weiteren Weg ihrer Sendungen via Internet verfolgen können.
  • Wachpersonal orientiert sich beim nĂ€chtlichen Rundgang oder im Alarmfall anhand der Bilder von stationĂ€ren Videokameras, die direkt auf die Helm-Schirme umgeleitet werden.
  • Ärzte greifen wĂ€hrend der Visite auf Patientendaten im Klinikcomputer zurĂŒck und können sie mittels Arm-Tastatur oder Handschrifterkennungs-Programm gleich aktualisieren. In Pilotversuchen statten US-Großkliniken inzwischen auch Patienten mit Armband-Computern aus, die von den wearables der behandelnden Ärzte gelesen und ergĂ€nzt werden. Die Zahl von Verwechslungen, Falsch-Medikationen und anderen Kunstfehlern hat sich so drastisch reduzieren lassen.

Das alles scheint auf den ersten Blick praktisch, es spart Zeit und Geld, erhöht die Sicherheit. Doch wearables sind, nicht zuletzt in den Augen ihrer Erfinder, mehr als ein beliebiges Mittel zur Steigerung von Effizienz. Sie stellen einen kulturgeschichtlichen Meilenstein dar, einen entscheidenden Entwicklungssprung zur Integration von Mensch und Maschine, zur entwickelten Cyborg-Zivilisation, wie sie von den Hightech-Pionieren angestrebt wird.

Den Begriff selbst prĂ€gte 1960 der Luftfahrtingenieur Manfred Clynes. Mit Cyborg – der Kurzform von cybernetic organism, kybernetischer Organismus – wollte er das Einswerden von Pilot und FluggerĂ€t beschreiben; natĂŒrlich nicht in physischer, sondern in funktionaler Hinsicht. Genauso eben, wie Menschen und wearables eine Arbeits-Einheit bilden.

Marshall McLuhan nahm den Begriff auf und prophezeite, dass die Potenzierung der körperlichen und intellektuellen Möglichkeiten durch moderne Technologie nicht nur Einzelne beeinflussen, sondern StĂŒck fĂŒr StĂŒck die Gesellschaft cyborgisieren werde. Die eskalierende Verschmelzung des Homo sapiens mit seinen – digitalen – Werkzeugen gab ihm recht.

Denn lĂ€ngst sind wir von unseren Computern so abhĂ€ngig wie unsere agrarischen Vorfahren einst von ihren Nutz- und Haustieren. Die Cyborgisierung ist in den Augen vieler Wissenschaftler daher das SchlĂŒsselereignis der Epoche. „Wir sind alle ChimĂ€ren, theoretisierte und fabrizierte Hybriden aus Maschinen und Organismen; kurz, wir sind Cyborgs”, schreibt Donna Haraway, BegrĂŒnderin der Cyborg-Anthropologie.

Der Wissenschaftshistoriker David Hess nennt die Gegenwart ein „Proto-Cyborg-Zeitalter.” Sherry Turkle, Soziologin am Massachusetts Institute of Technology (MIT), behauptet: „Wir lernen, uns selbst als eingestöpselte Techno-Körper zu erkennen … Wir trĂ€umen alle Cyborg-TrĂ€ume.” Und Nicholas Negroponte, Leiter des MIT-Media Lab und Autor des Kult-Buchs Being Digital, stellte gar 1995 lapidar fest: „Die Cyborgs sind schon hier!”

Was er keineswegs metaphorisch meinte – Negroponte sprach von einigen seiner Studenten, berĂŒhmt-berĂŒchtigten Pionieren des wearable computer. Dessen wissenschaftliche Geschichte beginnt Anfang der neunziger Jahre, als die elektronischen Komponenten klein, billig und leistungsfĂ€hig genug wurden.

Ein Zentrum der Forschung ist bis heute die Carnegie Mellon UniversitĂ€t in Pittsburgh, die seit 1991 mehrere Generatioen des VuMan entwickelte, dem Prototyp eines Kraftwagen-Wartungs-wearable, der bei Praxisversuchen die Inspektionszeit um die HĂ€lfte verringerte. Zu den privaten Forschungsinstituten, die intensiv an „tragbarer Technologie” arbeiten, gehören das IBM Almaden Research Center und das von Microsoft-MilliardĂ€r Paul Allen mit 100 Millionen Dollar finanzierte Interval Research Laboratorium.

Am radikalsten und innovativsten jedoch betreibt man seit Jahr und Tag die Integration von Mensch und Computer am Media Lab – nicht zuletzt mit dem Spenden-Etat von jĂ€hrlich fĂŒnf Millionen Dollar, den Negroponte interessierten Konzernen wie Disney, Nike und Microsoft fĂŒr das Forschungsprojekt „Things That Think” abgeluchst hat. Zu diesen denkenden Dingen zĂ€hlt wesentlich wearable technology: Dinge, die sich wie Kleidung und Schmuck am Körper tragen lassen.

„Wie kann man Audio-Kommunikation besser empfangen als durch einen Ohrring oder wie fernmĂŒndliche Mitteilungen besser senden als durch ein Revers?” fragt Professor Negroponte: „Schmuck, der blind, taub und dumm ist, ist sein Geld nicht wert.”

Geht es nach ihm, wird in Zukunft jede Brille oder Kontaktlinse Daten empfangen können – Satelliten-TV oder E-Mail aus dem Internet. Den Strom fĂŒr die anziehbaren Minicomputer, Modems und Funktelefone sollen Stoffe auf Polymerbasis liefern, die wie Solarzellen Licht in Energie umwandeln können. Und als Stauraum fĂŒr die zentrale Prozessoreinheit, meint er, komme vor allem unsere Fußbekleidung in Betracht.

„Schuhe haben viel ungenutzten Platz, produzieren viel Energie beim Laufen, die bislang nicht genutzt wird, und sie sind ideal, um zwischen dem Körper und dem Boden eine Kommunikationsverbindung herzustellen”, sagt Negroponte: „Wenn man nach Hause kommt, können sie, noch bevor man seinen Mantel auszieht, mit dem Teppich reden und die Lieferung personalisierter Tagesnachrichten direkt an die Brille vorbereiten.”

Den ersten Prototypen der smarten Sneakers hat man am MIT in Zusammenarbeit mit dem Sponsor Nike bereits gebaut: In einer Aluminiumbox, die rund 12 mal 9 Zentimeter groß und 4 cm dick ist, stecken eine CPU und zwei kleine Sender. Das flache BehĂ€ltnis wird wie eine gewaltige Einlagesohle in den Schuh geschoben.

So verrĂŒckt das in den unvernetzten Ohren des NormalbĂŒrgers klingen mag, die meisten Fachleute hegen sehr Ă€hnliche Hoffnungen. „Das komplette Konzept eines Computers wird sich Ă€ndern”, meinte schon 1991 Dan Harden, VizeprĂ€sident von Frogdesign in Menlo Park, der Firma, die den Apple Macintosh-WĂŒrfel und Steve Jobs’ Next-Kubus entwarf: „Wir werden ihn vollstĂ€ndig in unsere Lebensweise integrieren. Warum sollen wir ihn also nicht am Körper tragen?” Derweil zweifelt kaum jemand in der Hightech-Industrie noch daran, dass ein solcher Paradigmenwechsel bevorsteht.

Heutige PCs nĂ€mlich sind alles andere als Personal Computers, sie sind bestenfalls Portable Computers. Die meisten stehen auf Schreibtischen und verlangen, dass ihre Benutzer sich anbetungsvoll vor ihnen positionieren. Und selbst in ihrer Inkarnation als Laptops bleiben sie eher backsteinschwere Schlepptops. Um endlich von einem ArbeitsgerĂ€t zu einem ganz normalen Element des Alltags zu werden, zum universellem „Lebensmittel” jenes neuen Web-Lifestyles, von dem wearable-Fan Bill Gates nicht mĂŒde wird zu schwĂ€rmen, mĂŒssen die digitalen GerĂ€te jedoch immer um uns sein.

Ob Microsoft, IBM oder Compaq – alle versuchen sie daher gegenwĂ€rtig, Fernseher und Autos, Telefone und Pager in vernetzte Computer zu verwandeln. Vor allem der Markt tragbarer Gadgets explodiert – von High-Tech-Armbanduhren wie der Timex-Datalink-Watch mit 1-Kilobyte-Speicher, die allein im ersten Jahr 100 000 mal verkauft wurde, ĂŒber „intelligente” Pager und Winz-Funktelefone wie Motorolas StarTac, ĂŒber Walkmen, CD-Player, TaschenĂŒbersetzer, chipbestĂŒckte Kredit- und Identifikationskarten, etwa fĂŒr Garagen- und BĂŒroeingĂ€nge, bis zu Internet-fĂ€higen Kleincomputern, „Digitalen Assistenten” wie Psion, Newton oder dem PalmPilot, der binnen 18 Monaten ĂŒber eine Million KĂ€ufer fand.

Eine Vielzahl digitaler Maschinen rĂŒckt uns so immer dichter auf den Leib, und wer die GerĂ€te liebt oder beruflich auf solche Kommunikations- und Arbeitsmittel angewiesen ist, fĂŒhrt heute das beladene Dasein eines Hightech-Packesels. „Wir sollten im Sattel sitzen, nicht unter ihm”, klagt Negroponte und formuliert die Sehnsucht vieler Leidensgenossen nach Kleidungs-Computerei, die endlich all die Elektronik mĂŒhelos „tragbar” macht.

Dass dergleichen Erleichterung heute nicht mehr – wie noch vor einem Jahrzehnt – als phantastische Utopie erscheint, sondern als vielversprechender Zukunftsmarkt, wie das Fachblatt CMP jĂŒngst schrieb, ist wesentlich das Verdienst der wohl bekanntesten Pioniere der wearables, der MIT-Studenten Steve Mann und Thad Starner. Mann ist inzwischen promoviert und zum Dozenten avanciert, aber noch immer proben beide tagtĂ€glich mittels ihrer selbstgebauten 3000-Dollar-Avantgarde-AusrĂŒstung die Etablierung symbiotischer Arbeitsbeziehungen zwischen Mensch und Maschinen. Mit ein paar Tastaturbefehlen senden sie, wĂ€hrend sie ĂŒber den Campus schlendern oder im Supermarkt einkaufen, E-mail um die ganze Welt oder rufen die Memos von Diskussionen auf, die sie mit ihren jeweiligen GesprĂ€chspartnern vor Jahren gefĂŒhrt haben. Sie erkunden Adressen und Telefonnummern, informieren sich ĂŒber FahrplĂ€ne und das politische Geschehen.

FĂŒr den normalen Angestellten- oder gar Freizeit-Alltag sind real existierende wearables wie diese natĂŒrlich noch viel zu klobig. Was es zur Durchsetzung auf dem Massenmarkt brĂ€uchte, ist echte Softwear, modisch-gestylte Computer-Kleidung, die sich gewissermaßen in der Waschmaschine waschen lĂ€sst. An ihr, an „washables”, werkeln im Magic Fabric Project weitere MIT-Studenten. Was ihre Experimente mit kommerziell erhĂ€ltlichen Stoffen und Materialien produzierten – leitende oder mit Sensoren bedruckte Stoffe, gewebte Tastaturen –, wurde vergangenen Herbst wĂ€hrend des ersten Softwear-Symposiums am MIT neben den derweil ĂŒblichen wearables in einer vielbeachteten Modenschau vorgestellt.

Sind die Denkmaschinen erst einmal vollstĂ€ndig in unsere Kleidung integriert, prophezeien die MIT-Pioniere, werden wir alle ĂŒber uns selbst hinauswachsen. „Stell dir vor – nie mehr etwas vergessen. Kameras in der Brille, dazu ein Gesichtserkennungs-Programm, und du wirst nie wieder in die peinliche Situation geraten, von jemandem den Namen nicht zu wissen”, sagt der ziegenbĂ€rtige Starner. „Oder verbinde dich mit dem Globalen Positionierungssystem und verirre dich nie wieder!”

Eine ganz persönliche Note hat Steve Mann hinzugefĂŒgt: smarte underwear. Seine vernetzte Unterhose sammelt intime Daten, ĂŒber den Hautwiderstand etwa oder die Herzrate, und sorgt so neben der allgemeinen Gesundheitsvorsorge alltĂ€glich fĂŒr das physische Wohlbefinden ihres TrĂ€gers. „Wenn ich zuhause ankomme, ist mir meist warm, schon vom Treppensteigen. Sobald ich ins Bett gehe, stellt meine UnterwĂ€sche also die Heizung ab,” sagt Steve Mann. „Aber nach ein paar Stunden Schlaf, wenn mein Metabolismus runterschaltet, spĂŒrt meine UnterwĂ€sche die VerĂ€nderungen in Körpertemperatur und Körperspannung und dreht die Heizung hoch.”

Mancher, dem Steve offenbart, was er unter der Hose trĂ€gt, neigt zum LĂ€cheln. Dabei handelt es sich beim smarten Slip um eine Idee, die unmittelbaren Anklang bei denen fand, die noch immer die grĂ¶ĂŸten Forschungsetats zu vergeben haben – den MilitĂ€rs. Eric Lind, ein Ingenieur der US-Navy, mit der Versorgung Verwundeter befasst, erkannte: Tragen Kampftruppen vernetzte Sensoren-Unterkleidung, kann die Einsatzleitung sofort feststellen, wer wo wie schwer verwundet wurde – was eine Art Tele-Triage ermöglichen und damit im Kriegsgebiet Leben retten wĂŒrde, sowohl bei Verwundeten wie SanitĂ€tern.

Wenn die Evolutionsgeschichte vom PC ĂŒber wearables zu echter Softwear also etwas lehrt, dann das: Nichts ist so verrĂŒckt, dass nicht jemand daran arbeitete – mit teilweise verblĂŒffenden Erfolgen. Es gibt heute lasergesteuerte Displaysysteme, die ihre Bilder mit Spitzenauflösungen und hohen Refreshraten direkt auf die Retina des Auges projizieren. Es gibt Batterien aus papierdĂŒnnem faltbaren Material. Es gibt vielversprechende AnsĂ€tze, Turnschuh-Computer mit einem Teil der 57 Watt Energie zu betreiben, die eine durchschnittliche Person beim Gehen erzeugt. Und es gibt die wasserdichten WetPCs des australischen Institute of Marine Sciences, mit denen man abtauchen kann und deren graphisches Interface durch eine modifizierte Armtastatur gesteuert wird.

Überhaupt die Phantastik der Eingabemöglichkeiten: Neben Stimmerkennungsverfahren, deren Exaktheit vor zwei oder drei Jahren kaum einer fĂŒr möglich gehalten hĂ€tte, funktioniert die Steuerung via finger tracking, bei dem Fingerzeichen die Maus ersetzen. Texte lassen sich zudem mit digital ink eingeben, einer Art intelligentem FĂŒller, entwickelt von Carnegie Mellon. Er speichert zum Heraufladen auf den PC, was einer auf Papier schreibt. Die Bilder dazu werden von digitalen Chip-Kameras eingespielt, nicht grĂ¶ĂŸer als ein menschliches Auge. Und dank Programmen wie jenem, das Mark Lucente von IBM bei der letzten Comdex in Las Vegas vorstellte, sind sie auch zur Bedienung eines PCs zu benutzen: Der Computer verfolgt und interpretiert bestimmte Handbewegungen.

Am magischsten sind wohl zweierlei Innovationen. Zum eine das Verfahren, das Neil Gershenfield vom MIT erforscht. Es steuert Computer mittels der Kraftfelder des menschlichen Körpers. Und zum zweiten das PAN, das Personal Area Network, das Thomas G. Zimmermann in IBMs Almaden Research Center entwickelt. Es macht sich die körpereigene Spannung zu nutze, kein Milliardstel Ampere.

„PAN-GerĂ€te”, sagt Zimmermann, „benutzen unseren salzigen, blutgefĂŒllten Körper als feuchten Verbindungsdraht.” Das PAN soll die PeripheriegerĂ€te der Körper-Computer verbinden, den Funktelefon-Ohrring etwa mit der Adressenkartei im Turnschuh-Speicher. Schon heute lassen sich so per HĂ€ndedruck digitale Visitenkarten von wearable zu wearable austauschen.

Wohin entwickelte Softwear, digitale Vernetzung, die nicht mehr von uns weicht, am Ende die Menschheit fĂŒhren wird, darĂŒber streiten sich die Experten und mehr noch die, die gar nichts davon verstehen. Die humanste Version allerdings hörte ich vergangenen Sommer ausgerechnet von einem Transhumanisten – von Max More, dem HĂ€uptling der Extropianer, Kaliforniens radikalster Hightech-Fraktion, deren AnhĂ€nger lieber heute als morgen vom Homo sapiens zum digital ermĂ€chtigten Übermenschen mutieren möchten.

In San Jose, dem heißen Herzen von Silicon Valley, traf man sich zum jĂ€hrlichen Palaver. Das Thema: die Selbst-Evolutionierung der Menschheit. Zu den Referenten gehörte die Elite der digitalen Intelligenz, darunter Marvin Minksy vom MIT, der „Vater der kĂŒnstlichen Intelligenz”, und Ralph Merkle, Mit-Erfinder der Public-Key-Kryptographie und Nanologe am legendĂ€ren Xerox Parc in Palo Alto. Max More, promovierter Philosoph und Propagandist einer neuen, digitalen AufklĂ€rung, sprach ĂŒber The Augmented Animal – Das verbesserte Tier.

„AllmĂ€hlich realisieren wir”, sagt er, „dass nicht nur Geisteskranke ihre emotionale Persönlichkeit verĂ€ndern mĂŒssen. Um wirklich posthuman zu werden, haben wir alle in den Griff zu kriegen, wie wir auf verschiedene Situationen reagieren.” Um dieses hehre Ziel zu erreichen, meinte er, bedĂŒrften wir Allzumenschlichen der Soft- und Hardware.

Seine Vision: ein persönlicher digitaler Assistent, der seinen Namen verdient, weil er sich um unsere Persönlichkeit verdient macht – ein softwear mood agent, der unsere Stimmungen misst und Korrekturen vorschlĂ€gt. „So ein unauffĂ€lliger elektronischer Begleiter könnte zum Beispiel durch Biosensoren feststellen, wenn wir unter Stress stehen oder im Begriff sind, die Nerven zu verlieren. Und uns dann warnen.”

„Wie ein Ehepartner”, kommentiert ein Zwischenrufer.

„Tja, wie der Tritt unterm Tisch”, grinste Max More und warf seiner Frau Natasha einen kurzen verliebten Blick zu.

Gemessen an den Phantasien der Ingenieurs-Elite hatte diese Vision des Hightech-Philosophen etwas rĂŒhrend Menschliches. Die Cyborg-utopischen Vorstellungen des MIT-Projektleiters Neil Gershenfield etwa reichen erheblich weiter. In zehn Jahren, prophezeit er, werden wir alle Softwear tragen. Und in zwanzig werden wir uns die kleinen Helfer in den Körper einbauen lassen.

Warum er allerdings so lange warten will, ist nicht klar. Andrew Singer von Interval Research ließ sich bereits vergangenen Sommer eine „programmierbare TĂ€towierung” patentieren, einen implantierten Mini-Computer, dessen Schirm durch die schĂŒtzende Haut hindurch zu lesen ist.

Dieser Artikel findet sich – leicht gekĂŒrzt – ebenfalls auf der Website von NZZ FOLIO unter http://www.nzzfolio.ch/www/d80bd71b-b264-4db4-afd0-277884b93470/showarticle/67ee8bee-27c3-41d6-ae66-0acfa18595df.aspx