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Senden Sie sich selbst! In: NZZ Folio, Juni 2008, S. 24-25



Gundolf S. Freyermuth

Senden Sie sich selbst!

Erstlingswerke auf YouTube

Irgendetwas ist für irgendjemanden immer das erste Mal. Der 26jährige Kalifornier Steve Shih Chen zum Beispiel lud im Mai 2005 sein erstes Video auf eine Website hoch, die er gerade mit zwei Freunden gebastelt hatte. „Pajamas and Nick Drake“, 28 Sekunden kurz, zeigte eine Katze beim musikalisch begleiteten Spielen.

Knapp drei Jahre später stürmt mein zehnjähriger Sohn George in mein Arbeitszimmer: Er hat sein erstes Video online gestellt, Szenen seines Runescape-Spiels. Mit dem Stolz aufs erste eigene Werk befindet sich George in zahlreicher Gesellschaft. Wer Mitte Mai auf YouTube Suchbegriffe wie „my first video / YouTube vid / vlog“ oder deutschsprachige Äquivalente eingibt, erhält allein für die zurückliegenden vier Wochen rund 10 000 englischsprachige und ein halbes Tausend deutschsprachige Treffer. Dazu kommen erste Videos aus zehn anderen Sprachräumen, die das Videoportal bedient.

YouTubes unerwarteter Erfolg machte Mitbegründer Steve Chen (Nutzername: Steve; gesehene Videos: 9909*) zum dreistelligen Millionär. Die erfolgreichsten der heute rund 85 Millionen Videos auf dem Portal haben fast 90 Millionen Zuschauer gefunden. Doch Chens Ur-Werk erlitt das Schicksal der meisten Erstlingsvideos: Nur ein Mikro-Publikum will sie sehen. Drei Jahre nach der Veröffentlichung verzeichnet „Pajamas and Nick Drake“ kaum 9000 Aufrufe, im Schnitt also neun pro Tag. Georges Video (Nutzername: ninetaledfox19972, gesehene Videos: 1980) schneidet mit 46 Aufrufen nach 10 Tagen zwar noch schlechter ab, sein zweites Werk aber hat mit 122 Aufrufen in neun Tagen alle Chancen, Chens legendäre Katze einzuholen.

Warum also immer nur YouTube schauen? Warum nicht selbst ein Video ins Web stellen? Das Thema liegt auf der Hand: Was veranlasst immer mehr Menschen, unter die Videoproduzenten zu gehen? Wovon handeln diese Filmchen? Welche Bedürfnisse, Sehnsüchte treiben die Webvideowelle?

Anderthalb Tage später habe ich mir rund 100 Erstlingswerke jüngeren Datums angesehen und Beispielszenen gesammelt. Deutlich fallen die Neulings-Videos in zwei Kategorien.

Einerseits gibt es Anverwandlungen massenkultureller Produkte durch ihre Fans. Diese Mashups und Remixes werden von Spiele-Videos dominiert. Ein besseres Beispiel gibt „CSS Bots in freier Wildbahn“, ein „Dokumentarfilm“ aus dem Spiel Counter Strike: Source von Nutzer r0b0k3nny (20 Jahre alt, gesehene Videos: 30). Ebenso finden sich Montagen von Szenen aus Spielfilmen, Musikvideos und TV-Serien sowie Karaoke-Stücke. Gemeinsam ist diesen Werken die ungebrochene Verehrung für das, was sie meist wenig originell bearbeiten.

Dennoch erlebt man überraschende Augenblicke. „Me singing from Greenday: Boulevard of Broken Dreams“ zeigt einen blassen jungen Mann (Yankee1101, 24 Jahre alt, gesehene Videos: 511), der in einem bläulichen T-Shirt mit der Aufschrift Chiemsee zwischen Bauernschrank und Kamera tritt, um schmucklos zu singen: „I walk alone / My shadow's the only one that walks beside me ...“ Oder „Guild Wars – SBD Dance Video“ von DJKullerkeks (19 Jahre alt, gesehene Videos: 878): Princess Ofobsidian, Maggy McFly und DJ Zero R legen zum Song „BooM BooM“ der Vengaboys eine heiße Tanznummer hin; mal mehr, mal weniger bekleidet, immer aber vergnüglich anzusehen.

Im Schnitt interessanter sind jene anderen Erstlingswerke, die mit Originalmaterial operieren, mit Bildern privater Momente und intimen Inszenierungen, um Individuelles, einen Gedanken, ein Gefühl auszudrücken. Eine auffällige Anzahl der Video-Novizen erklärt schlicht Liebe, etwa Sueczae1 (20 Jahre alt, gesehene Videos: 83) mit „Für Mausi x3“, bei der er sich unter anderem „für die Blondienenwitze“ (sic) bedankt. Oder Siska0912 (24 Jahre alt, gesehene Videos: 342), die in My Angel and me von ihrem oberkörpergestählten Freund schwärmt, der stark und bestens organisiert sei und zudem noch küssen könne. Oder RaCast87 (20 Jahre alt, gesehene Videos: 2639), Erstlingsautor von „Naschy I love you“, der fragt: „Ich hoffe, dieses Video hat dir gefallen“? Doch drei Tage nach dem Hochladen fehlt noch jeder Kommentar ...

Vom Genre her ähnlich sind die zahlreichen Oden an vierbeinige Gefährten oder eine vielbeinige Freundesschar. „Ich will dich nie verlieren“, schreibt die blonde AsDfGh112 (30 Jahre alt, gesehene Videos: 773) ihrem Islandpferd Ida. Und IIFoxxyII (16 Jahre alt, gesehene Videos: 1015) erklärt uns amüsant Was ist eigentlich ein FIENCHEN ??!! Erst ein Folge-Video vermeldet der Hausratte Fienchens Ableben, „auf Grund eines Tumores (der auch im Video sichtbar ist)”.

Andere wie xXKuschelboyXx (17 Jahre alt, gesehene Videos: 114) zieht es mehr zu den Mitmenschen: „Thank you Leute“ sagt er: „Ich habe euch unendlich dolle Liep“. (sic) Und die „Schulbankwärmerin“ summerbreez15 (14 Jahre alt, gesehene Videos: 987), zu deren Hobbys es gehört, ihren Mathelehrer zu verabscheuen, postet „Für meine Freunde (Teil 1)“, obwohl es ihr „relativ egal“ ist, wie sie „nach außen hin rüber komme“.

Die große Zahl von Oden an Geliebte und Gefährten aller Arten scheint typisch – nicht für Webvideos, sondern für Erstlingswerke. Die meisten ihrer Autoren haben lange zugeschaut. Die Gewohnheit des passiven Konsums zu überwinden und zum Mitmacher zu werden, für diesen Schritt brauchten sie wohl den Antrieb starker Gefühle.

Hat man dann Geschmack an der neuen Ausdrucksform gefunden, folgen Videos zu anderen Vorlieben wie Sport, Tanz, Erotik. Beides sind auch typische Single-Anlässe für ein erstes Video, man schaue zum Beispiel „Industrial Dance“ von Valner666 (20 Jahre alt, gesehene Videos: 596), eingeführt mit den Worten „wenn man langeweile hat wa ^^“. Oder das düstere „Der Augenblick“ von SonjaRIP (16 Jahre alt, gesehene Videos: 230), in dem wir mit Erschrecken erfahren, der Moment der Selbstverletzung, wenn Blut über den Körper fließt, sei „der Augenblick – der dir beweist das du noch am Leben bist.“

Beide Erstlingsvideos faszinieren mit Einblicken in die Rave- oder Ritzer-Subkulturen wie sonst Dokumentationen über Naturvölker. YouTube setzt damit die zweitälteste Tradition des WWW fort, die ethnologische. Denn seit den ersten Monaten diente es nicht nur dem Wissenstransfer, zu dem es erschaffen wurde. Es bot immer auch Einblicke in das Leben anderer, erst über Texte, die kein Profi redigiert hatte, später durch Bilder und Töne, nun eben in Videos, wie sie die Massenmedien zuvor weder produzieren konnten noch gesendet hätten. Weshalb nicht selten deren Hintergründe – Details unaufgeräumter Wohn- und Schlafzimmer, zuschauende Verwandte und Bekannte – interessanter sind als vieles, was sich im Vordergrund abspielt.

Diese Webvideos erretten, wie Siegfried Kracauer es einst dem Film zusprach, die äußere Wirklichkeit. Doch sie zeigen noch mehr, weil sie den Gegensatz von Filmern und Gefilmten aufheben: innere Wirklichkeiten, unverstellte Sehnsüchte und Hoffnungen, Lieben und Leiden, Denkweisen und Praktiken. Soviel unsicheres Ausprobieren – und Scheitern. Soviel vorsichtiges Ausstrecken von Händen – und so wenige ergreifen sie, rufen die Videos ab, kommentieren, loben.

Ein wenig traurig stimmt das bisweilen, doch dann tippt man den nächsten Suchbegriff oder klickt auf eine andere Kategorie und hat nicht nur die Qual der Wahl, sondern auch den Impuls aufzuschreien: Wie viel Anstrengung, wie viel Lebenszeit hier investiert wird! Wie viel produktive Energie, wie viel Kreativität, die früher vorm Fernseher verdämmerte!

Eine neue Spezies von Mediennutzern wächst heran. Wie wohl werden ihre nächsten Videos aussehen, das Zehnte, das Hundertste? Zeit, mit unserem ersten zu beginnen ...


Der dazu gehörige Info-Text “Wie Video ins Internet kam” findet sich
–>hier.

Die YouTube-Seite mit dem dreiteiligen Erstlingsvideo zum Text sowie allen im Text erwähnten Videos findet sich
–>hier.

Der Artikel findet sich leicht gekürzt auch auf der Website von
NZZ Folio