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Wie Video ins Internet kam. In: NZZ Folio, Juni 2008, S. 25
Gundolf S. Freyermuth
Wie Video ins Internet kam
Fernsehen war nie genug, so sehr sich auch die Kanäle vermehrten. Diesem Leiden am TV verlieh bereits 1992 Bruce Springsteens Song „57 Channels (And Nothin’ On)“ lautstarken Ausdruck. Zwei Jahre später entwarf George Gilder in seinem Buch Life After TV die Utopie einer besseren Medienwelt.
Damals hatte das WWW den vergleichsweise wenigen, die es weltweit nutzten, zwar außer Texten und Grafiken von geringer Auflösung noch nichts anzubieten. Keinen Ton, keine laufenden Bilder. Gilder aber prognostizierte einen radikalen Paradigmenwechsel: An die Stelle passiven Konsums von standardisierten TV-Programmen zu festgelegten Zeiten werde eine (inter-) aktive Nutzung von Aufruf-Angeboten nach individuellen Interessen und persönlichem Belieben treten.
Bis das WWW diese Hoffnungen halbwegs Wirklichkeit werden ließ, verging ein Jahrzehnt. Das Interesse, das erste Online-Ruckelbilder in den späten neunziger Jahren weckten, bewies das Verlangen nach audiovisueller Unterhaltung und Kommunikation. Doch der technische Stand verhinderte den Einsatz außerhalb von Nischen wie Web-Chat oder Pornographie. Erst nach 2000 verschwand die schmalbandige Einwahl zugunsten breitbandiger Immer-an-Vernetzung. Hatten bis dahin Texte und Bilder den Netzverkehr dominiert, so sorgten nun neue P2P-Tauschbörsen wie Napster und Musikläden wie iTunes dafür, dass Musikdateien die meiste Bandbreite fraßen.
2005 geschah dann der audiovisuelle Urknall: YouTube ging online. Scott Kirsner beschreibt die Konsequenzen in The Future of Web Video als die – nach der Einführung von Kino und Fernsehen – dritte audiovisuelle Medienwende. Binnen Monaten explodierte die Videonutzung. 2006 war YouTube die am schnellsten wachsende Website. Weltweit entstanden Imitationen. Anfang 2008 machten Video-Pakete schon mehr als die Hälfte des Netzverkehrs aus.
Gegenwärtig schauen allein die 135 Millionen US- Onliner jeden Monat rund 10 Milliarden Webvideos, 75 pro Person oder 204 Minuten monatlich. Wobei ein klares Altersgefälle besteht: Je jünger die Nutzer, desto intensiver die Nutzung. YouTube, nun Teil des Google-Imperiums, bleibt mit Abstand führend. Pro Tag werden an die 200 Millionen YouTube-Seiten aufgerufen, gleichzeitig wächst der Bestand alle 24 Stunden um fast 200 000 neue Videos. Ihre durchschnittliche Länge liegt unter drei Minuten, die knappe Hälfte ist englischsprachig. Deutsch hält einen Anteil von knapp drei Prozent.
Die kulturellen Konsequenzen des Webvideo-Siegeszugs scheinen weitreichend. Manche Kritiker befürchten, das Schwinden des Massenmediums Fernsehen werde einen Verlust an sozialer Bindung und politischer Teilhabe bewirken. Andere hingegen beobachten individuelle Ermächtigung, das Entstehen einer demokratisierten audiovisuellen Kultur.
Technisch jedenfalls ist die hierarchische Trennung in Sender und Empfänger aufgehoben: Jeder Laptop- oder Handy-Besitzer kann überall und zu jeder Zeit Audivisuelles nicht nur nach Belieben konsumieren, sondern auch selbst produzieren und weltweit anbieten.
Der zu diesem Text gehörende Artikel “Senden Sie sich selbst” steht –>hier.
Die YouTube-Seite mit dem dreiteiligen Erstlingsvideo zum Text sowie allen im Text erwähnten Videos findet sich –>hier.
Der Artikel findet sich leicht gekürzt auch auf der Website von NZZ Folio