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Ausgebimmelt, abgebrabbelt. Ein Telefonhasser freut sich auf die lautlose Zukunft. In: NZZ FOLIO, September 1999, S. 23-30.
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Gundolf S. Freyermuth

Ausgebimmelt, Abgebrabbelt!

Das Telefon war stets ein unwiderstehlicher Eindringling und hassenswerter Störenfried. Zum Glück wird es von menschlicheren Kommunikationsmitteln abgelöst.


„Wissen Sie, warum es die Leute heute am liebsten a tergo tun?“ fragte mich mal Billy Wilder, als wir den Zusammenhang von Hollywood und Heterosexualität diskutierten. Die Antwort gab er selbst: „Damit beide Partner dabei Fernsehen gucken können.“ Ob diese Einsicht statistisch gesichert war, weiß ich nicht. Unumstritten unter Kommunikationswissenschaftlern ist hingegen der Einfluss eines anderen Mediums auf das moderne Sexualverhalten: Minute für Minute kommt es in der zivilisierten Welt zum coitus telefono interruptus, werden Paarungen vom Telefon unterbrochen.

Auch jene, die im Alltag selbst zu den übelsten Telefontätern zählen, befällt in solchen Sekunden eine Ahnung von der abstrusen Autorität des Apparats, der seit einem Jahrhundert im Zentrum der Kommunikationsrevolution steht. Der Siegeszug des Telefons scheint total. Seinem Klingeln und dem sich daran anschließenden Gebrabbel zu entkommen, ist unmöglich, wohin man sich auch flüchtet, ob ins Kinodunkel oder an den Strand, ob auf die Mitte des Ozeans oder auf die Gipfel des Himalaya. Angesichts der boomenden Kommunikationsgewalt vergisst sich aber leicht, dass nicht erst seit Handy-Zeiten Telefon und Terror Hand in Hand gehen.

Schrecklich sind Telefone keineswegs geworden, weil es überall zu viele von ihnen gibt. Schrecklich waren sie schon immer, und erst recht zu der Zeit, als sie noch monopolistisch erzeugte Mangelware waren. Die ursprüngliche Hölle waren freilich nicht andere Anrufer, sondern die Telefonbürokraten. Ihnen galt die zahlende Kundschaft als zu beutelnde Bittstellerbande. Der überteuerte Anschluss, wenn er denn nach langem Warten und stetem Nachhaken endlich kam, wurde wie unverdiente Gnade gewährt. Ein deutscher Unternehmer erzählte mir mal, wie sich allem Flehen und Fluchen zum Trotz die Bundespost über Monate hinweg weigerte, im neuen Firmendomizil eine Telefonanlage zu installieren. An Funktelefone war damals, in den siebziger Jahren, noch nicht zu denken. Also hatte sich der Herr über hundert Angestellte Tag für Tag mit einem Säckchen Silbermünzen bewaffnet und die gelbe Zelle vor seinem Büro besetzt, um einen überlebenswichtigen 20-Millionen-Dollar-Auftrag auszuhandeln – während eine wechselnde Meute aus Rentnern und Teenagern gegen die Scheiben hämmerte und mit Lynchjustiz drohte.

So unsinnig der Gedanke scheint, innovative Techniken in die Hände einer Monopolbürokratie zu legen, in den Geburtsjahren des Telefons machte er Sinn. Die Zwangsstandardisierung vermied Kompatibilitätsprobleme genauso wie der Beschluss, den Alexander Graham Bell in den 1870er Jahren fasste und den fast alle Telefongesellschaften bis in die 1980er Jahre aufrechterhielten: Kein Kunde durfte ein eigenes Telefon oder Endgerät kaufen. Apparate waren vom Monopolisten zu mieten, andere Hardware anzuschließen, war unter Strafe verboten. Das Telefonnetz wurde so von Störungen freigehalten und blieb jederzeit modernisierbar, da auf die installierte Basis keine Rücksicht genommen werden musste.

Die technokratische Logik hatte soziale Konsequenzen, von denen man annehmen darf, dass sie Orwell, der Computer nicht kannte, wohl aber Telefone, zu seiner Vorstellung vom Großen Bruder brachten. Denn der Arm der allmächtigen Telefongesellschaften reichte so bis in die Schlafzimmer. Die uniformen, gleichmäßig hässlichen Geräte, die die Verbraucher zu mieten hatten, durften über 100 Jahre hinweg nicht ohne Genehmigung von einem an einen anderen Ort verlegt werden. Und sie ließen sich – das grausamste Detail – weder ausstöpseln noch abschalten.

Dieser Bürokratensadismus, das dialektische Gegenstück zum Anschlussverbot besserer Technik, hieß „Anschlusszwang“. Er unterstellte jeden Bürger in der Alten wie in der Neuen Welt dem Diktat der jeweiligen Fernmeldebürokratie.

Neulich lief ein alter Film, in dem ein übermüdeter Mann versuchte, ein schellendes Wählscheibenungetüm im Kleiderschrank unter der Wäsche zu begraben. Meinem fünfjährigen Sohn zu erklären, worin der Sinn dieser Szene bestand, war nicht einfach, aber eine lehrreiche Übung. Sie weckte die Erinnerung an den Telefonterror, den ich selbst noch viele Jahre in den eigenen vier Wänden erduldete.

Das überfällige Ende der Telefondiktaturen kam mit der Digitalisierung. Bis dahin nämlich hatten die Monopolisten lediglich für unansehnliche Bakelit-Geräte und die unangenehmen Begleiterscheinungen gesorgt, die jede Ausschaltung von Wettbewerb mit sich bringt: Mangelverwaltung statt Innovation, lange Wartezeiten und skandalöse Preise, gepaart mit dem Versuch, die Kunden zu drangsalieren. Nun jedoch verschliefen sie die dramatische Konvergenz zwischen Telefon und Computer und wandelten sich zum Modernisierungshindernis.

1984 wurde AT&T zerschlagen, der US-Markt für Endgeräte und Ferngespräche freigegeben. Der nun entfesselte Fortschritt ließ die Preise purzeln, formschöne und funktionale Endgeräte mit ungeahnten Fähigkeiten überschwemmten den amerikanischen Markt. Bald drangen diese technischen Wunderdinge auch ins weiterhin monopolistische Europa – wo ihr Anschluss selbstverständlich nicht genehmigt war.

Die Prohibition hatte vorhersehbare Folgen: Hinz und Kunz gingen in die schraubenzieherische Illegalität und taten, was laut Knebelnutzungsvertrag strengstens untersagt war: Telefondosen wurden geöffnet, Drähte gekappt, Leitungen verlegt, die ungeliebten Mietapparate weggepackt und neue, verbotene angeschlossen: Tastentelefone mit Wahlwiederholung, schnurlose Geräte, Anrufbeantworter, Faxmaschinen und vor allem – Modems.

Am schönen Ende ließ sich das Telefonmonopol in der Alten Welt ebenfalls nicht mehr halten. Mit bekannten Folgen. Im vergangenen Jahrzehnt wurde weltweit mehr Kapazität bereitgestellt als im gesamten Jahrhundert zuvor. Wie das Leitungs- explodierte dank digitaler Technik auch das Leistungsangebot. Das Telefon ist im Begriff, zum persönlichen Kommunikator zu mutieren. In der Entwicklung sind immer kleinere Telefon-Computer-Hybriden, die noch in die winzigste Tasche passen oder sich wie eine Uhr am Arm und wie ein Clip am Ohr tragen lassen. Der eine oder andere Telefonie-Visionär schwärmt gar vom Implantat. Die Zukunft verspricht nicht endenden Telefonterror.

Nun allerdings, da wir ihn nicht mehr von Bürokraten angetan bekommen, sondern ihn gegeneinander ausüben, lässt er sich vermeiden. Von der staatlichen Bevormundung im Gebrauch der Technik befreit, müssen wir bloß lernen, mit ihr richtig umzugehen, sie zu nutzen, wo sie Vorteile bietet, und sie ansonsten durch bessere Verfahren zu ersetzen. Worin aber bestehen die strukturellen Nachteile des Telefons?

Vor allem anderen ist es ein synchrones Kommunikationsmittel, das die gleichzeitige Aufmerksamkeit der Teilnehmer verlangt. Das Ferngespräch gleicht insofern dem persönlichen – von dem es sich jedoch radikal dadurch unterscheidet, dass es die Zeit, nicht aber den Ort der Teilnehmer synchronisiert. Aus dieser Differenz folgt, dass Telefonate prinzipiell stören. Angerufen zu werden, unterbricht den eigenen Arbeits- und Lebensrhythmus. Das Telefon ist, wie schon Marshall McLuhan feststellte, ein „unwiderstehlicher Eindringling“, der sich nicht wie Radio oder Fernsehen in den Hintergrund schieben lässt.

Zu telefonieren ist daher eine herrschaftsförmige Aktivität, bei der eine Partei der anderen ihre Zeit aufzwingt. Welchen Einfluss wir haben, zeigt sich im Alltag daran, welche Anrufe wir durch Hilfskräfte oder Technik blockieren können und wie zügig wir selbst durchgestellt werden. Nur innerhalb klarer Hierarchien – im militärischen Umfeld oder im Binnenverkehr traditioneller Konzerne – funktioniert das Telefon daher leidlich. In der Kommunikation halbwegs Gleichberechtigter jedoch erweist es sich als Zeitvernichtungsmaschine. Erhebungen zeigen, dass gerade mal ein Viertel aller Anrufe die gewünschte Person erreicht.

Das Problem der Synchronisierung von Lebenszeiten ist jedoch nur ein Teil der strukturell bedingten Ineffektivität. Der zweite besteht in der Flüchtigkeit der Technik. Normale Telefonkommunikation hinterlässt im Gegensatz zum Brief oder Telegrafen keine verwertbaren Datenspuren.

Dieser Mangel wurde von Anfang an erkannt. Die Bosse der Telegrafengesellschaften, die das Kommunikationsgeschäft vor dem Telefon dominierten, lehnten jede Investition in eine solche Spielzeugtechnik ab. Edison, der bedeutendste Erfinder der Epoche, war ihrer Ansicht. Bereits 1877 stellte er eine eigene Neuentwicklung vor, die das Telefon geschäftsfähig machen sollte: den Phonographen. Mit ihm ließen sich Ferngespräche aufzeichnen und archivieren – allerdings nicht auf die übliche schriftliche Weise, weshalb das Verfahren sich nicht durchsetzte. In bestimmten Branchen war es noch eine Weile üblich, Telefonate mitzustenographieren. Die nächste Generation von Geschäftsleuten, mit der neuen Mündlichkeit aufgewachsen, nahm dann die schriftferne Unmittelbarkeit des Mediums als normal hin.

Das Telefon wandelte so die sozialen Riten, und zwar nicht zum Besseren. Viele der üblichen Papierspuren, die Arbeit und Geschäft, Leben und Lieben hinterließen, verloren sich. Die fernmündliche Kommunikation tötete eine jahrhundertealte Briefkultur; nicht nur zum Leidwesen von Historikern und Literaturwissenschaftlern. Die Begeisterung, mit der viele Opfer von Diktaturen in diesem Jahrhundert ihre Akten eingesehen haben, indiziert die weiterreichende Bedeutung der Aufzeichnungen und Telefonmitschnitte: Sie vergegenwärtigen das verquasselte und vertelefonierte Leben, sie ersetzen die eigenen, nie geschriebenen Dokumente.

Der Aufstieg der neuen Mündlichkeit zeigt sich unter dieser Perspektive als Verlust, als Rückschritt auf eine vorzivilisatorische Stufe. „Keine mündliche Gesellschaft, von der wir wüssten – keine menschliche Gruppe, die allein durch Rede kommunizierte, ohne schriftliche Kopien zu produzieren“, stellt der Medienhistoriker Paul Levinson in seiner Geschichte der Informationsrevolution fest, „hat je irgend etwas erreicht, das wir ‚Zivilisation‘ nennen könnten.“

Wer an jemanden schreibt, scheint zwar zu ihm zu sprechen, nur eben zeitversetzt. Dieses asynchrone Sprechen unterscheidet sich jedoch kategorial von reiner Mündlichkeit. Die schriftliche ist eine kondensierte und korrigierte Rede, in die zwangsläufig ein Mehr an Zeit und damit selbst im „gedankenlosen“ Schreiben ein Mehr an Reflexion investiert wurde. Sie sorgt für eine Stabilisierung und Kodifizierung des kollektive wie individuellen Wissens.

Mündlichkeit hingegen treibt uns in die Falle der Gegenwärtigkeit. Henri Nannen, dem legendären Gründer der Illustrierten stern sagt man nach, die traurige Wahrheit gelassen ausgesprochen zu haben: „Was interessiert mich mein dummes Geschwätz von gestern.“ Diese Haltung garantiert die unendliche Wiederholung solch dummen Geschwätzes, das Verdämmern in einer leerlaufenden Gegenwart, in der wir, selbst wenn wir uns erinnern wollten, es aus Mangel an Gedächtnis nicht könnten. Nannens Credo ist insofern das ideale Motto sowohl für den Boulevardjournalismus wie für die Epoche des Telefons.

Diese Ära neigt sich nun ihrem Ende entgegen. Eine Vielzahl von „remedial media“ hat sich im Bereich der Telefonie bereits durchgesetzt. Der Begriff meint neue Techniken, die Mängel etablierter Medien reparieren. Anrufbeantworter, Voice Mail, Pager und Handys bessern die Erreichbarkeit auf. Das Fax rückt der Flüchtigkeit der Kommunikation zu Leibe, indem es Schneckenpost-Brief auf Telefontempo bringt. All diese Innovationen doktern jedoch an den Symptomen herum. Anrufbeantworter zum Beispiel speichern zwar Nachrichten, sind jedoch für die Darstellung komplexerer Zusammenhänge denkbar ungeeignet; nicht zuletzt, weil die Nachricht vom Abhörenden memoriert oder notiert werden muss.

Erst der vernetzte Computer erfüllt nun das wachsende Bedürfnis, dem Terror der Synchronität und der Flüchtigkeit zu entkommen. E-mail ist zugleich asynchron und unmittelbar. Elektronischer Text kann zudem zitiert, archiviert und mühelos nach bestimmten Passagen durchsucht werden. „E-mail kombiniert die Unmittelbarkeit des Telefons oder des Gesprächs von Angesichts zu Angesicht mit der Nachdenklichkeit (oder zumindest der Gelegenheit für Nachdenklichkeit) des geschriebenen Worts“, schreibt der amerikanische Journalist Michael Kinsley. Sein Damaskus-Erlebnis hatte er, als er von CNN zu Microsoft wechselte, um dort das Online-Magazine Slate herauszugeben. Das erste, was ihm an seinem neuen Arbeitsplatz auffiel, war die Stille: „Das Telefon klingelt nie.“

Microsoft stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. E-mail löst in fast allen Hightech-Firmen und an den meisten amerikanischen Universitäten das Telefon als vorrangiges Kommunikationsmittel ab. Seltene Anrufe oder Besuche im Büro des Kollegen, das verlangt die digitale Kommunikette, kündigt man zuvor per elektronischer Post an. Ausgerechnet vom Leiter der AT&T Bell Laboratorien, dem Nobelpreisträger Arno Penzias, weiß man, dass er Leute, die anrufen, wenn sie genauso gut E-mail hätten schicken können, für rüde und aufdringlich hält. Per Telefon anderen die eigene Zeit aufzuzwingen und ihnen so die ihre zu stehlen, gilt zunehmend als unfein. Silicon Valley nimmt in der Entwicklung der neuen Kommunikationsriten eine Vorreiterrolle ein. Doch andere Industrien und soziale Gruppen folgen schnell. Jüngsten Umfragen zufolge greifen 26 Prozent der US-Manager zuerst zum Telefon, 36 Prozent hingegen schicken lieber eine Mail.

Europa hinkt wie in allen Dingen der Digitalisierung noch um einige Jahre hinterher. Viele Amerikaner beklagen denn auch Kommunikationsschwierigkeiten. Falls die europäischen „Gesprächspartner“ überhaupt E-mail haben, lassen sie sich mit der Antwort oft mehrere Tage Zeit – was dem unmittelbaren Charakter des Mediums zuwiderläuft –, oder sie beantworten die E-Post gar, indem sie aufdringlicher Weise zurückrufen. Böser Wille steckt meist nicht hinter diesen Zumutungen. Die wenigsten verstehen halt schon die neuen Techniken und wie sie die Zwangsjacke synchroner Kommunikation sprengen.

Wie weit die Unkenntnis reicht, bewies kürzlich die Berichterstattung über eine Gallup-Untersuchung zur Mediennutzung. Sie zeitigte gleich in zwei überregionalen deutschen Zeitungen die absurde Meldung, Manager kämen „aufgrund der ständigen Unterbrechungen durch Anrufe, E-mail und Telefaxe“ kaum mehr zum Arbeiten. Die fundamentale Differenz zwischen dem synchronen, daher störenden Telefon und den beiden anderen asynchronen, eben nicht unterbrechenden Kommunikationsformen schien keinem der beiden Autoren und auch nicht ihren Redakteuren bewusst.

Verschwinden wird das Telefon, wie sehr sich das mancher wünschen mag, allerdings in Zukunft so wenig, wie einst mit der Einführung des Films das Theater verschwand oder mit dem Fernsehen das Radio. Vom Zentrum der sozialen Kommunikation wird das Bimmel-und-Brabbel-Gerät lediglich an die Ränder gedrängt werden. Insofern scheinen Anti-Telefon-Tiraden heute fast schon so, als trete man einem Fallenden nach.

Die Nischen, in denen Fernmündlichkeit besser funktioniert als alle anderen Kommunikationsformen, sind freilich zahlreich; etwa, wo es um die schnellstmögliche Übermittlung von Informationen geht, um Alarm- und Krisensituationen, um Hilferufe, Befehlsübermittlung, Koordination beweglicher Einheiten und Serviceleistungen. Für Händler und Dienstleister wird es daher zunehmend nötig, rund um die Uhr kostenlosen Telefonkontakt anzubieten. Das Gegenteil gilt hingegen weniger: Anrufe von Geschäften an Privatleute verlieren dramatisch an Akzeptanz und werden in Kürze technisch auszufiltern sein. Nicht mehr fern scheint der Punkt, an dem die Kommunikette verlangt, dass telefonische Störungen genauso im Voraus abgesprochen werden müssen wie heute schon Hausbesuche.

Auch im Privatleben wird der schriftliche Kontakt, eine modifizierte Wiederbelebung der Briefkultur per E-Mail, SMS, und Textchat zur Regel werden – und Anrufe immer mehr zur Ausnahme. Wobei die Entwicklung in den (aus-)gebildeten Schichten und unter jüngeren Leuten schneller verlaufen dürfte. Wie es zwei Generationen brauchte, bis das Telefon den Brief als Kommunikationsmittel verdrängte, wird nun wohl die digitale Wiederbelebung der Schriftlichkeit nicht von heute auf morgen gelingen. Quasseln kann schließlich jeder, sich schreibend mitzuteilen will gelernt sein.

Last but not least nimmt die Bedeutung des Telefons für erotische und sexuelle Kommunikation eher zu, im privaten wie im kommerziellen Bereich. Einem anderen, zumal fremden Menschen ins Ohr flüstern zu können, produziert sofortige Vertrautheit. Das Telefon ist eine perfekte Privatisierungsmaschine, eine Apparatur, die uns Fremde täuschend nahebringt. Diese Simulation von Intimität lässt Psychic Hotlines wie die Telefonsexindustrie florieren. Die dreiste Art und Weise, in der diese Branchen via Telefon Sehnsüchte und Ängste ausbeuten, führt am Extrembeispiel vor Augen, wie verfallen wir dem Telefon einst waren: Warum wir es nicht über uns brachten, den Höllenapparat einfach klingeln zu lassen, ob wir nun lasen oder aßen, schliefen oder liebten. „Jeder von uns hat unerfüllte Träume“, schreibt Paul Levinson, „Sehnsüchte, die vielleicht niemand anders erfüllen kann als die Stimme am anderen Ende des Klingelns.“

Doch nun, in den heraufziehenden digitalen Zeiten, da alle Nachrichten, nach denen wir fiebern, uns nicht mehr übers Telefon erreichen werden, können wir es beruhigt abstellen – und schnell noch mal Control-M drücken, um unsere Mailbox zu checken.


Dieser Artikel findet sich – leicht gekürzt – ebenfalls auf der Website von NZZ FOLIO unter http://www.nzzfolio.ch/www/d80bd71b-b264-4db4-afd0-277884b93470/showarticle/0f7ea589-3e0e-4200-a960-332ce943d8c1.aspx