Textprobe aus:
Mike Große-Loheide, Norbert Neuss (Hrsg.), Körper, Kult, Medien. Buchpublikation zum GMK-Forum 2006 in Dresden, Bielefeld (GMK) 2007
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Menschen [Maschinen / Medien] Bilder
Digitale Menschenbilder im medienhistorischen Kontext
Von Gundolf S. Freyermuth (1)
I Menschen // Bilder
Machen Kleider Leute, so Medien Menschenbilder. Denn Medien sind, wie Marshall McLuhan erkannte, „extensions of man“, spezifische Erweiterungen des Menschen Möglichen. (M. McLuhan 1965: 464) Sie steigern technisch kreatürliche Fähigkeiten, zu hören, zu sehen, zu handeln. Damit verändern sie nicht nur die Wahrnehmung unserer Umwelt, sie ermöglichen neue Blicke auf uns selbst. Medien schafft sich die Gesellschaft, betont etwa Niklas Luhmann, zu ihrer Selbstbeobachtung. (Luhmann 1995: 173).
Das von den Medien vermittelte Menschenbild zu rekonstruieren, es in seinem Werden und Wirken zu begreifen, ist daher zu jeder Zeit ein lohnendes, weil für das zeitgenössische Selbstverständnis konstitutives Unterfangen. Besondere Bedeutung gewinnt es freilich in Zeiten des Umbruchs. Dass sich gegenwärtig, zumindest in den fortgeschrittensten Regionen und Schichten ein radikaler Wandel vollzieht, lässt schon der Blick auf die nahezu täglichen Erfolgsmeldungen aus den Bereichen Robotik, Maschinenintelligenz und Nanotechnologie, Medizin und Genforschung erkennen. Grundsätzlicher reflektiert wird der epochale Umbruch in einer Vielzahl natur- und geisteswissenschaftlicher Monographien. (2)
Der auffällige Umstand, dass diese bahnbrechenden Untersuchungen samt und sonders im englischen Sprachraum entstanden, indiziert Ausgangspunkt und Zentrum der techno-kulturellen Umwälzung. Der deutschen Perspektive eignet damit eine gewisse, keineswegs freiwillig gewonnene Distanz. Was allerdings der praktischen naturwissenschaftlich-technischen Beteiligung zum Nachteil gereicht, mag der kulturwissenschaftlichen Analyse durchaus ein Vorteil sein. Die kritische Distanz soll daher noch durch zwei Anstrengungen verstärkt werden, zusätzlichen Abstand zu gewinnen.
Zum einen wird dem aktuellen Geschehen aus historischer Perspektive begegnet. Der Prozess der Digitalisierung und seine Konsequenzen erscheinen so im Kontext der beiden nachhaltigen Umbrüche, die ihm neuzeitlich vorausgingen: von Mechanisierung (II Individuen // Vorindustrielle Menschenbilder) und Industrialisierung (III Massenmenschen // Industrielle Menschenbilder).
Zum zweiten trägt die Untersuchung einer Besonderheit Rechnung, welche die deutsche Rede vom Menschenbild auszeichnet. Denn wer heute das Wort gebraucht, spricht meist metaphorisch: die Menschenbilder einzelner Philosophien und Ideologien, der Parteien und Kirchen, von Christentum oder Islam, das Menschenbild der Naturwissenschaften und Medizin, der Demokratien, ihrer Rechtssysteme, der Psychologie, der Soziologie usf. Einschlägige Wörterbücher – etwa der Oxford Duden – führen als englische Übersetzung von „Menschenbild“ denn auch einzig die der dominierenden übertragenen Bedeutung an: „conception of man“. (Scholze et al. 1990: 506)
Die enge Beziehung zur Bildhaftigkeit geht dabei verloren. Am Ursprung des deutschen Worts steht jedoch gerade sie: das Bild eines oder des Menschen, wie es direkter oder medial vermittelter Anschauung zugänglich ist. (3) Das Kompositum bewahrt so in seinem Doppelsinn die Einsicht, dass das säkulare Menschenbild der Moderne in steter Wechselwirkung mit den mehr oder minder realistischen Bildern entstand, welche die westliche Menschheit von sich selbst gewann; im medizinpraktischen Umgang mit dem Körper – durch Obduktionsskizzen, Durchleuchtungen, Scans – und wirksamer noch in der ästhetischen Gestaltung menschlicher Gestalt – in den Bildenden Künsten, in der Literatur, in Theater, Film usf.
Im Anschluss an den historischen Rückblick definiert der Essay daher die herausragende Rolle der Medien und Künste (IV Künste als Kompass // Angstlustbilder) innerhalb der technisch induzierten Modifikationen des menschlichen Selbstbilds (V Technik als Vorbild // Modelle des Menschlichen), um dann in der Analyse der vier neuen Mo delle des Menschlichen, die im Gefolge der Digitalisierung aufkamen, technologische und ästhetische Aspekte gleichermaßen und gleichberechtigt zu berücksichtigen (VI Computer // Intelligente Hardware, VII Cyborg // Menschmaschinenwesen, VIII Datei // Infowesen, IX Programm // Intelligente Software).
Zu beachten ist dabei, dass die fundamentale Bedeutung der Medien – ihres technischen Stands, ihrer sozialen Organisation, ihres individuellen Gebrauchs – für das Bild, das sich die Menschheit von sich selbst macht, nicht als deterministisches Verhältnis, sondern als dialektischer Bezug begriffen werden muss: Was wir, aufgewachsen im medialen Umfeld, geworden sind, bringen wir in die Produktion wie Rezeption technischer Medien und ihrer Produkte ein – und werden wiederum durch diese sei’s aktiv-kreative, sei’s passiv-nachvollziehende Medienpraxis in unserer Persönlichkeit, unseren Werten, Sicht- und Verhaltensweisen nachhaltig beeinflusst. Das Menschenbild der Gegenwart versteht sich nicht anders als die zu verschiedenen Zeiten und in den verschiedenen Kulturen gültigen Menschenbilder als soziokulturelles Konstrukt, zu entschlüsselnde Verwebung von Realität und Imagination, von Fakten und Fiktionen, von Menschlichem und Medialem.
Die Untersuchung mündet so schließlich in die Frage, ob sich die aktuellen Facetten eines teils noch industriellen, teils schon digital geprägten Menschseins zu einem – leidlich kohärenten – neuen Menschenbild fügen (X Multividuen // Postindustrielle Menschenbilder).
Weitere Kapitel:
II Individuen // Vorindustrielle Menschenbilder
III Massenmenschen // Industrielle Menschenbilder
IV Künste als Kompass // Angstlustbilder
V Technik als Vorbild // Modelle des Menschlichen
VI Computer // Intelligente Hardware
VII Cyborg // Menschmaschinenwesen
VIII Datei // Infowesen
IX Programm // Intelligente Software
X Multividuen // Postindustrielle Menschenbilder
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Anmerkungen
1 Der Text resümiert und systematisiert, was ich zuvor in Vorträgen, u. a. „Wo Wetware war, soll Software werden – Die Digitalisierung des Menschenbilds”, fmx 2003 – Kongress für digitale Medienproduktion, Stuttgart; „Körperkult – der schöne Schein“, Medienpolitischer Kongress des Medienforums NRW 2005; „Körperkult & Medien“, 23. Forum Kommunikationskultur der GMK, Dresden, sowie in folgenden Texten publiziert habe: (Freyermuth 1996, 1997a, 1998a, 1998b, 1998c, 2000a, 2000b, 2002, 2004, 2007).
2 Zu den wichtigeren zählen – in der Reihenfolge ihres Erscheinens – George Dysons Darwin Among the Machines: The Evolution of Global Intelligence (Dyson 1998), Ray Kurzweils The Age of Spiritual Machines: When Computers Exceed Human Intelligence (Kurzweil 1999), Hans P. Moravecs Robot: Mere Machine to Transcendent Mind (Moravec 1999), Chris Hables Grays, Cyborg Citizen: Politics in the Posthuman Age (Gray 2000), Rodney A. Brooks Flesh and Machines: How Robots Will Change Us (Brooks 2002), Gregory Stocks Redesigning Humans: Our Inevitable Genetic Future (Stock 2002), Francis Fukuyamas Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology Revolution (Fukuyama 2002), Brian Alexanders Rapture: How Biotech became the New Religion (Alexander 2003), Sheila M. und David J. Rothmans The Pursuit of Perfection: The Promise and Perils of Medical Enhancement (Rothman and Rothman 2003), Anne Foersts God in the Machine: What Robots Teach us about Humanity and God (Foerst 2004), Joel Garreaus Radical Evolution: The Promise and Peril of Enhancing Our Minds, Our Bodies – And What It Means to Be Human (Garreau 2005), Ray Kurzweils The Singularity is Near: When Humans Transcend Biology (Kurzweil 2005) sowie Simon Youngs Designer Evolution: A Transhumanist Manifesto (Young 2006).
3 Grimms Wörterbuch definiert Menschenbild als „gestalt des menschen und mensch selbst nach seiner gestalt“ und führt etwa als frühen Beleg etwa Hans Sachs’ Zeilen an: „was suchstw / hie in dieser wild, / darin ich vor nie menschenpild /in dreisig jaren hab gesehen?“ (Grimm and Grimm 1885: Spalte 2041).