Volltext aus:

Sachbuch, kanonisch, NON FIKTION – Arsenal der anderen Gattungen, Heft 2007/02, Berlin: Weidler Verlag, S. 173-174; erschienen Januar 2008




Falsch programmiert
Von Gundolf S. Freyermuth

Karl Steinbuch, Falsch Programmiert: Über das Versagen unserer Gesellschaft in der Gegenwart und vor der Zukunft, Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt 1968. Zahlreiche Auflagen.

Studentischen Protesten zum Trotz war die industrielle Welt 1968 erst in bescheidener Unordnung. Erahnen ließ sich freilich die Radikalität des begonnenen Wandels. Das bevorzugte Medium, um den techno-ökonomischen wie sozio-kulturellen Umbruch zu beschwören, den langen Marsch von der industriellen in die postindustrielle Epoche, von der Moderne in die Postmoderne, war das Sachbuch. Die öffentliche Diskussion bestimmten journalistische Aufklärungsschriften wie Hans Heigerts
Deutschlands falsche Träume oder Die verführte Nation (1967) über das moralisch-politische Versagen des Bildungsbürgertums oder Jean-Jacques Servan-Schreibers Die amerikanische Herausforderung (1968) über das technisch-ökonomische Versagen des industriellen Europa.

Beide Autoren zitierte Karl Steinbuch zustimmend in seiner eigenen Anklage gegen das „Versagen unserer Gesellschaft vor den Problemen der Wissenschaft und der Technik“. „Das deutsche Problem“, konstatiert er, sei „falsch programmierte Intelligenz“, ein anti-naturwissenschaftliches Ressentiment der das Nachkriegsdenken dominierenden neoromantischen „Hinterwelt“ (Nietzsche). Nicht nur handelten ihre Vertreter politisch konservativ: „In unserer nationalen Geschichte ist eine Leerstelle dort, wo bei anderen Nationen die Guillotine steht.“ Darüber hinaus kennzeichne ihr geisteswissenschaftlich geprägtes Verhalten ein kategorisches Vorurteil gegen naturwissenschaftlich induzierten Fortschritt: „Das deutsche Gemüt zieht die Gartenlaube dem Computer vor.“

Sein Bestseller machte Steinbuch kurzfristig zu einer jener „Galionsfiguren der deutschen technischen Intelligenz, die den Machtwechsel von 1969 herbeigeschrieben“ haben (Kurt Sontheimer). Aus der Flut meist gut gemeinter wie schlecht gedachter Warnschriften sticht
Falsch programmiert jedoch dank Steinbuchs außerordentlicher Sachkenntnis heraus. Der Physiker und langjährige Direktor des Instituts für Nachrichtenverarbeitung an der Universität Karlsruhe, verantwortlich für die Einführung des Begriffs Informatik, hielt ein halbes Dutzend Patente, unter anderem für neuronale Netze. Vierzig Jahre später haben sich denn auch Steinbuchs zentrale Prognosen, insoweit sie das Potenzial digitaler Technologie betrafen, weitgehend bewahrheitet.

Die entwickelte Welt ist den Weg in die Wissensgesellschaft gegangen. Bits laufen Atomen den ökonomischen Rang ab, die Verfügung über Informationen ist lukrativer geworden als die über die meisten Rohstoffe. Auditive und visuelle Interfaces erleichtern die Interaktion mit Computern, immaterieller Transport kultureller Artefakte wie Zeitungen ersetzt materiellen, wir versenden elektronische Post und gebrauchen global vernetzte Echtzeit-Enzyklopädien – was Steinbuch vorhersah, ist Alltag. Kaum einer wird noch seiner Einschätzung widersprechen, digitale Informationstechnik werde es an kulturellem Einfluss mit Druckerpresse und Fernsehen aufnehmen können.

Bei aller Hellsicht in den Details traf jedoch Steinbuchs Zukunft der „perfekten Technik“ – einem demokratischen Gott sei Dank – grundsätzlich nicht ein. Zu tief war sein Denken im Industrialismus befangen, dem Glauben an Großtechnologien, Massenmedien und anonyme Kontrollinstanzen. Die Entmündigung der Einzelnen schien ihm historisches Gebot.

Globale Vernetzung etwa entwarf er als Werk eines goliathanischen Großrechners. Derlei musste der Kontrolle Einzelner entzogen bleiben: „Das Individuum mit seiner Unberechenbarkeit und seinem nur scheinbar gebändigten Egoismus darf einfach die Schalthebel der perfekten Technik nicht in eigener Verantwortung betätigen.“

Die Angstlust-Zukunft eines durch sozialistische Kollektive kontrollierten digitalen Dämons aber endete wenig später mit dem PC, dem persönlichen Computer. Dessen Konstruktion war um die Mitte der siebziger Jahre nicht das Werk jener Profession, der in Wirtschaft wie Wissenschaft Steinbuch zugehörte. Der PC entstand vielmehr als Akt subkulturellen Widerstands. Den Hobbyisten – Hackern und Hippies der amerikanischen Westküste –, die ihn herbei bastelten, galt das Individuum nicht als mögliche Gefahrenquelle, sondern als Held: Digitale Technologie sollte persönlicher Lebensreform und Unterhaltung dienen.

An dieser real eintretenden Zukunft, der digitalen Dekonstruktion industrieller Zwänge, verzweifelte Steinbuch in seinen späteren Jahren zunehmend. Dabei hatte er auch das in Nebensätzen, etwa zur Rolle der Außenseiter im zivilisatorischen Prozess oder im Argument mit Helmut Schelskys autoritärer Utopie eines „technischen Staates“, schon erahnt: „Der Mensch ist der Kybernetes all dieses politischen Geschehens, er gibt Maßstäbe und setzt Ziele.“